Der Fels des Anstoßes

Nach dem Terroranschlag auf eine Synagoge in Jerusalem lädt sich der Nahostkonflikt religiös auf. Auf dem Tempelberg, heilig für Juden und Muslime, machen Radikale mobil.

Ist das jetzt der Moment, in dem aus dem Nahostkonflikt ein Religionskrieg wird? Am Dienstagmorgen überfallen zwei palästinensische Terroristen eine Synagoge in Har Nof, einem Viertel von Westjerusalem, in dem mehrheitlich ultraorthodoxe Juden leben. Mit Fleischermessern und Pistolen richten die beiden Attentäter aus Ostjerusalem unter Betenden ein Blutbad an, bevor sie von der anrückenden Polizei erschossen werden.

Der israelische Inlandsgeheimdienstchef Joram Cohen sagte, die Täter hätten den Ort für den Angriff offenbar bewusst ausgesucht. Sie seien vorher nicht auffällig geworden, und sie gehörten keiner Organisation an. Außenminister Lieberman beschuldigte den Palästinenserpräsidenten Mahmud Abbas, er habe dem jüngsten Terror Vorschub geleistet, weil er „den Konflikt bewusst zu einem religiösen Konflikt zwischen Juden und Muslimen gemacht habe“.

Seit Wochen schon hat sich die Lage zwischen Israelis und Palästinensern aufgeladen. Diesmal steht Jerusalem im Zentrum: Die Anschläge der vergangenen Wochen nahmen ihren Ausgang im Konflikt um den Tempelberg.

Am 22. Oktober raste ein Palästinenser mit seinem Auto in eine Straßenbahnhaltestelle in Jerusalem und tötete zwei Menschen. Eine Woche später schoss ein weiterer Palästinenser den Aktivisten Jehuda Glick nieder. Er gehört zu einer Gruppe, die den Tempelberg unter jüdische Kontrolle bringen will. Eine Woche darauf lenkte ein Mann seinen Kleintransporter erst in eine Gruppe israelischer Polizisten, dann überfuhr er Fußgänger. Als er ausstieg und Passanten mit einer Eisenstange attackierte, wurde er erschossen.

Es folgten weitere Attentate, sodass bereits von einer dritten, einer Jerusalem-Intifada gesprochen wird. Warum geht heute vom Tempelberg so viel Gewalt aus?

Das trapezförmige Geviert, rund 500 Meter lang und 300 Meter breit, ist für Juden und Muslime heilig. Je aussichtsloser die politische Lage wird, je ferner die Zweistaatenlösung rückt, desto mehr überformt die Religion den Konflikt – wie überall im Nahen Osten. Doch der Berg mitten in Jerusalem ist das Kraftzentrum, in dem die heiligen Energielinien der gesamten Region zusammenlaufen.

Wer die Anziehungskraft verstehen will, die dieser Ort ausübt, muss mit einem Frommen wie Benny Mahalla dorthin gehen.

Der 43-Jährige war lange nicht hier. Er lebt mit seiner Familie in einer Siedlung, eine halbe Autostunde von Jerusalem entfernt. Am Marokkaner-Tor, dem Eingang zum Tempelberg, der Touristen und Juden vorbehalten ist, zieht Mahalla seine Lederschuhe aus. Er schlüpft in weiße Schlappen, die er mitgebracht hat. Juden sollten diesen heiligen Ort eigentlich nur barfuß betreten.

Mahalla kennt den Tempelberg seit seiner Jugend. Vom Fenster seiner Talmudschule aus, gegenüber der Klagemauer, blickte er als Jugendlicher direkt darauf. „Selbst wenn ich den Tempelberg nur angesehen habe, habe ich die Heiligkeit gespürt.“ Mahalla kommt hierher, weil sich der Tod seines Rabbiners und Lehrers jährt: Schlomo Goren. Goren war 1967, bei der Einnahme Ostjerusalems, Oberrabiner der israelischen Armee. Seine Forderung: Das Militär solle den Felsendom sprengen und die Juden sollten sich an den Bau des dritten Tempels machen. Mahalla will heute auf den Berg steigen, um Goren zu gedenken. Aber er ist auch wegen der Eskalation der letzten Tage hier. „Wir müssen den Muslimen zeigen, dass wir stark sind“, sagt er.

Hier sollen die beiden Tempel der Juden, erbaut von Salomon und Herodes, gestanden haben. Die Muslime glauben, dass Mohammed an diesem Ort in den Himmel aufstieg. Das Heilige hat hier oft Quartier bezogen – auf die Tempel folgte eine Kirche und schließlich der islamische Schrein namens Felsendom. Dieser Berg ist religiös überbucht.

Das allein erklärt aber nicht den Hass. Noch 1925 konnten Touristen im islamischen Reiseführer lesen: Dieser Ort ist zweifelsfrei der Ort, an dem Salomons Tempel stand. Erst einige Jahre nach der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 fiel diese Passage weg. Nichts sollte nun mehr auf das jüdische Erbe des Tempelbergs hinweisen. Nachdem Israel Ostjerusalem 1967 im Sechstagekrieg besetzt hatte, teilten Jordanien und Israel den Berg untereinander auf und regelten den Zugang. Statt extremen Forderungen wie denen des Rabbi Goren nachzugeben, übergab Israel die Schlüssel zum Tempelberg an den Kriegsgegner. Jordanien verwaltet seither den Berg über die Waqf, eine islamische Stiftung.

Im Jahr 2000 löste der damalige Oppositionsführer Ariel Scharon mit seinem Besuch des Tempelbergs indirekt die zweite Intifada aus. Als Folge wurden die Moschee und der Felsendom komplett für Nichtmuslime geschlossen. Juden ist der Zutritt zum Tempelberg zwar weiterhin erlaubt – nur beten dürfen sie dort nicht.

Das wollen Aktivisten wie Benny Mahalla nicht hinnehmen. „Wie ihr wisst, sind wir eine Provokation“, sagt der Rabbi mit dem langen, grauen Bart, der Mahalla und weitere Juden über den Tempelberg führen wird. Ein letzter Halt vor dem Tor. Manche in der Gruppe gehen barfuß, einer hat sich Plastiktüten über die nackten Füße gestreift. Mahalla stolpert in seinen Pantoffeln. Aber er ist ganz ruhig, hat die Hände in den Taschen vergraben. Er weiß, dass Juden auch an diesem Ort gut geschützt werden. Zwei grimmige Polizisten und zwei muslimische Wärter holen sie am Tor ab. Sie passen auf, dass niemand zu beten versucht. „Macht schnell“, mahnt der Rabbi ein letztes Mal. „Wir haben nicht viel Zeit.“

Warum ist Juden das Beten nicht erlaubt? Je mehr sich die Palästinenser in der Geschichte bedrängt fühlten, desto exklusiver beanspruchten sie den Tempelberg für sich. Das Verbot des jüdischen Gebets ist eine letzte Demonstration der Oberhoheit in einem Gebiet, das umstellt ist von israelischen Sicherheitskräften in Ostjerusalem. Umbaut auch von Stadtteilen, die im Rest der Welt als Siedlungen angesehen werden. Die Muslime treibt die Sorge, den Tempelberg mit kleinen Schritten zu verlieren. Ist Juden erst mal das Gebet erlaubt, fürchten sie, dauere es nicht mehr lang bis sie den Felsendom abreißen und an seiner Stelle einen neuen jüdischen Tempel bauen.

Juden, die auf dem Tempelberg auch nur verdächtig die Lippen bewegen, werden darum beschimpft. Auch Jehuda Glick, der Tempelberg-Aktivist, der mit vier Schüssen niedergestreckt wurde, hatte auf dem Tempelberg gebetet.

In der Woche nach dem Attentat fürchtete Israel Aufmärsche radikaler Juden auf dem Tempelberg. Die Polizei schloss darum das Gelände komplett – erstmals seit der zweiten Intifada. Palästinenserpräsident Abbas, dessen Popularität im Vergleich zur militanten Hamas sinkt, rief zum „Tag des Zorns“ auf und dazu, die Al-Aksa-Moschee auf dem Tempelberg „mit allen Mitteln zu verteidigen“.

Eine Woche nach dem Anschlag auf Glick kam es dort zu Krawallen. Israelische Polizisten drängten die Steinewerfer in die Moschee. Dieses Mal, so schrieben es palästinensische Medien, sollen sie die Moschee dabei betreten, gar „gestürmt“ haben. Die israelische Polizei streitet das ab: Höchstens einen Fuß habe man hineingesetzt.

Muslime weltweit schenkten den Beteuerungen keinen Glauben. Jordanien, Wächter über den Ort, berief seinen Botschafter ab. US-Außenminister John Kerry rief die Konfliktparteien nach Amman, Außenminister Frank-Walter Steinmeier reiste zu einem Blitzbesuch nach Israel und in die palästinensischen Gebiete. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu versprach öffentlich, der Tempelberg werde bei den Muslimen verbleiben. Doch die Gefahr ist nicht gebannt. Die Spannungen in der Region und auch um den Tempelberg, sagte Steinmeier vor seiner Abreise, seien noch „lange nicht vorbei“.

Auf dem Berg hat sich in den Pfützen der Regen des Morgens gesammelt. Benny Mahallas Socken sind durchnässt, er friert. Doch er geht weiter. Als seine Gruppe wenige Meter gegangen ist, zieht Mahalla sein Handy aus der Hosentasche. Ohne gewählt zu haben, hält er es an sein Ohr, bewegt die Lippen. Es ist ein Ablenkungsmanöver: Die Polizisten und die muslimischen Aufseher sollen glauben, dass er telefoniert. In Wahrheit betet er.

Es ist ein hastiges Gebet. Er darf nicht stehen bleiben, muss schnell sprechen. Er bittet Gott um Gesundheit für seine Familie, um Glück für die Zukunft. Dann lässt er das Handy sinken und lächelt. In diesem Moment, wird er später sagen, sei er Gott so nah gewesen wie sonst selten.

Nach den jüngsten Gewalttaten versuchten Politiker und Geistliche, den Zorn zu drosseln. Einer der beiden Oberrabbiner von Israel, Jizchak Jossef, polterte seine Kollegen an: Nur „viertklassige Rabbiner“ würden es erlauben, auf den Tempelberg zu gehen – ein Frontalangriff auf nationalreligiöse Kollegen, wie Goren einer war. Selbst Außenminister Avigdor Lieberman, gewiss der undiplomatischste Oberdiplomat Israels, rief andere Knessetmitglieder dazu auf, nicht auf den Tempelberg zu gehen und nicht zu zündeln, weder mit Worten noch mit Taten.

Benny Mahalla beeindruckt das nicht. Vor dem Ausgang des Tempelberg-Geländes haben sich Dutzende Palästinenser aufgebaut. Sie stehen am Tor, israelische Polizisten sorgen dafür, dass sie den Sicherheitsabstand zu den Juden wahren. „Allahu Akbar“, schreien sie im Chor. Mahalla und seine Gruppe lassen sich nicht stören. Je länger sie über den Tempelberg gehen, desto näher kommen sie den Palästinensern. Auf dem Weg hinaus müssen sie an der Menge vorbei. Mahalla sieht die Männer eher neugierig als ängstlich an. Kurz vor dem Tor drehen sich die Juden mit dem Rücken zum Ausgang. Sie blicken auf den Felsendom und verlassen rückwärts gehend den Platz: eine Huldigung des Tempels, dem man nicht den Rücken zuwenden soll. „Allahu Akbar“, hallt es ihnen nach. Als sie das Tor hinter sich haben, beginnen Mahalla und die anderen zu singen. „Möge er bald den Tempel wiedererrichten. Rasch, noch in unseren Tagen. Gott, bau dein Haus wieder auf.“

Benny Mahalla möchte wiederkommen.

Erschienen in DIE ZEIT