Stadt der Träume

Was Israel kann, können Palästinenser erst recht. Dachte sich der Unternehmer Baschar Masri und baute die erste moderne Siedlung für sein Volk im Westjordanland: prächtig – und leer. Warum nur will hier kaum jemand leben?

Als Teenager warf Baschar Masri Steine auf die israelische Polizei; mit Wut im Bauch über die Besatzung seiner Heimat. Sein Leben hätte tragisch verlaufen können, doch heute, mit 55 Jahren, trägt Baschar Masri Maßanzüge, verfügt über geschliffene Manieren und ein millionenschweres Vermögen.

Eine palästinensische Erfolgsgeschichte. Ein Unternehmer mit Talent, und mit einem großen Traum.

Baschar Masri baut eine Stadt im Nichts, in einer Einöde mitten im Westjordanland. Seit sechs Jahren kann er seine Stadt wachsen sehen, aus dem Fenster seines Büros. Erst wurde der Hang abgetragen, dann planiert, heute ragen zwischen Olivenhainen und Salbeisträuchern helle Gebäude in den Himmel. Mächtige Wohnblöcke, Rohbauten eines Krankenhauses und das stolze Minarett einer Moschee. Baschar Masri, drahtig, entschlossen, sagt in perfektem Englisch: „Mein Traum wird wahr.“ Es klingt trotzig.

Masris Stadt, seine Utopie, liegt, je nach Blickwinkel: auf einem Hügel. Oder an einem Abhang.

Er hat sie „Rawabi“ getauft, das arabische Wort für „Hügel“.

In den typischen palästinensischen Orten sind die überfüllten Straßen voller Schlaglöcher, es gibt selten Gehsteige. Fußgänger, Autos und Eselskarren drängeln sich auf der Fahrbahn. Oft liegt Müll am Straßenrand, hängen Kabel zwischen den Häusern wie Lianen.

In Rawabi sind die Gehwege breit, vor den Häusern blühen Teerosen und Lavendel, Stromleitungen verlaufen unter der Erde. Masri plant Kinderbetreuung, damit die Mütter arbeiten können. Bald wird es hier Cafés geben und Kinos, ein Spa und einen Nachtclub. Und Wohnhäuser für 25 000, später sogar 40 000 Menschen.

Rawabi ist das größte Bauprojekt, das es je in den Palästinensischen Gebieten gegeben hat. Eine in Beton gegossene Überzeugung: Wer eine moderne Stadt bauen kann, kann auch einen Staat aufbauen.

Doch Rawabi zeigt auch, warum das Streben der Palästinenser nach Unabhängigkeit seit Jahrzehnten stockt. Der Bauunternehmer Baschar Masri ficht im Kleinen viele Kämpfe aus, die Palästina im Großen bevorstehen.

Einige Bewohner Rawabis hat Baschar Masri eigenhändig eingeworben. Naim und Wafa Mansour etwa, ein befreundetes Ehepaar. Masri zeigte ihnen das Kunststoffmodell seiner Utopie; die Mansours sahen helle Miniaturgebäude, dazwischen breite, begrünte Straßen. Rundherum Bäume aus grünem Filz. Dazu einen Fußballplatz und ein Volleyballfeld, einen Wasserpark und ein Amphitheater.

So westlich wie möglich, und so palästinensisch wie nötig.

Wafa Mansour, 58 Jahre alt, dachte; „so etwas hatten wir Palästinenser noch nie“. Sie überredet ihren Mann, eine Wohnung in Rawabi zu kaufen, drei Zimmer, 100 Quadratmeter; die Mansours verfügen über ausreichend Geld.

Inzwischen, drei Jahre später, sind die ersten Möbel angekommen: eine weiße Chaiselongue, eine schwarze Ledercouch. An einem Morgen im Sommer 2016 ist die Luft kühl, doch die Mittagshitze lässt sich bereits erahnen. Wafa Mansour trägt schon in der Frühe sorgsam gepuderte Wangen; sie packt Tassen und Teller aus. Die Gläser, die sie aus den Kartons schält, stammen aus Deutschland. Das Kaffeeservice aus der Türkei, der Kronleuchter aus der Tschechoslowakei. Es sind Souvenirs, die das Paar von seinen Reisen mitgebracht hat. Im Schlafzimmer liegt ein Großeinkauf von Ikea aus dem Laden nahe Tel Aviv: Leintücher, Decken, Hausschuhe aus hellem Stoff. Es fehlen nur noch die persischen Teppiche, „und der Flachbildfernseher“, dann ist die Wohnung fertig eingerichtet.

Die Mansours, arabische Israelis, gehören zur wohlhabenden, gebildeten Oberschicht; sie leben bisher in der Nähe von Tel Aviv. Naim Mansour, 68 Jahre alt, kräftige Hände, Wohlstandsbauch, ist Arzt und hat in Deutschland studiert. Er trägt auch in der Wohnung ein schwarzes Hemd und Lederschuhe.

Als er sich einen Stuhl auf den Balkon stellt, dringt das Kreischen einer Kreissäge herüber, doch Mansour stört das nicht. Für ihn ist das kein Lärm, sondern Zukunftsmusik. „Bald wird es hier aussehen wie in Monaco“, ruft er gegen das Baugetöse an. Umgerechnet rund 90 000 Euro hat er in die Wohnung investiert. Und damit, sagt er, in den Erfolg seines Landes.

Rawabi, sagt Naim Mansour, gebe den Palästinensern etwas, das sie seit langem verloren hätten: Hoffnung. „Die Jugendlichen hier brauchen Jobs, eine Perspektive“, sagt Mansour. „Im Moment sterben sie lieber als Attentäter, als in Armut weiterzuleben.“

Doch wenn Naim Mansour sich von seinem Balkon aus umschaut, sieht er im Norden eine Baustelle und im Süden leere Fassaden. In einigen Hauseingängen stehen Paletten mit Fliesen, vor den Türen liegt Bauschutt. Eigentlich sollten die Straßen unten erfüllt sein von Leben, doch außer den Arbeitern rührt sich nichts.

Rawabi, das Symbol für die palästinensische Unabhängigkeit, sieht von hier oben ein wenig aus wie eine Geisterstadt. Dafür gibt es Gründe, die sehr unterschiedlich ausfallen, je nachdem, wen man fragt.

Im Jahr 2010 begann der Unternehmer Baschar Masri mit dem Bau der Stadt. Er war mit Investitionen in Landwirtschaft und Immobilien reich geworden; doch für dieses Projekt – geschätzter Umfang: eine Milliarde Euro – brauchte er Partner mit Geld. Er fand sie in der Regierung von Katar, die Bedingungen stellte: eine große Moschee müsse in Rawabi gebaut werden.

Das Westjordanland, in dem Rawabi liegt, ist aufgeteilt in drei Zonen: In die A-, B- und C-Gebiete. Die größte – das C-Gebiet – wird vollständig von Israel kontrolliert; dort entstehen entstehen immer mehr israelische Orte. Auch von Rawabi aus sind die blauen Fahnen dieser Siedlungen zu sehen, die von der UNO als illegal verurteilt werden.

Rawabi liegt gleich daneben, in der A-Zone. Diese wird allein von den Palästinensern verwaltet. Doch Rawabis Wasserzufuhr stammt aus jenem Gebiet, das Israel besetzt.

Im Jahr 2014 ließ es Israel auf eine Machtprobe ankommen: Die Behörden kappten die Wasserversorgung von Rawabi. Die Palästinensische Autonomiebehörde sollte im Nachhinein, so forderte Israel, die Wasserversorgung einiger jüdischer Siedlungen offiziell anerkennen, die ohne Zustimmung der Palästinenser gebaut worden waren. Israel wollte damit seine eigenen Siedlungen legalisieren und hoffte wohl, Rawabi, die Metropole vor den Toren des jüdischen Staates, zu verhindern. Die Autonomiebehörde weigerte sich. Rawabi lag auf dem Trockenen.

Viele Wohnungen waren bereits fertig – doch die Bewohner konnten nicht einziehen. Zahlreiche Käufer sprangen ab. Baschar Masris Traum schien ausgeträumt.

Inzwischen fließt das Wasser, weil westliche Politiker, bis hin zum amerikanischen Präsidenten Obama, Druck ausgeübt haben. Doch der Konflikt um die Planstadt schwelt weiter. Die Zufahrtsstraße für Rawabi führt durch die C-Zone und wird sowohl von Siedlern, als auch von den palästinensischen Bewohnern genutzt. An der Straße steht ein israelischer Checkpoint. Manchmal ist der Wachturm leer, an anderen Tagen kontrollieren Soldaten jedes vorbeifahrende Auto. Dann kommt der Verkehr beinahe zum Erliegen.

„Israel braucht den Checkpoint nur dauerhaft zu besetzen“, sagt Baschar Masri. „Und wir können Rawabi dichtmachen. Niemand würde hier mehr wohnen wollen.“

Die Checkpoints sind Alltag im Westjordanland; eine Sicherheitsmaßnahme für die eine, Schikane für die andere Seite. In ihrer ersten Nacht in Rawabi träumte Wafa Mansour, dass ihr Auto von israelischen Siedlern mit Steinen beworfen wird. Auch deshalb kehren die Mansours immer wieder in ihr Haus bei Tel Aviv zurück.

Für das Ehepaar Mansour ist das schicke Apartment in Rawabi nur eine Zweitwohnung.

Für Rawabi ist das zum Problem geworden. Viele arabische Israelis haben zwar Wohnungen in der Stadt gekauft. Doch dort leben wollen sie nicht. Rawabi ist für sie ein Symbolprojekt – so wie die Idee eines Palästinenserstaats. Sie unterstützen die Gründung mit einer Investition. Aber niemals würden sie den Komfort Israels oder des Auslands gegen ein Leben im unsicheren Palästina eintauschen.

Als Baschar Masri bemerkte, dass viele Wohnungen leer standen, obwohl sie verkauft waren, wurde er nervös.

Wer sollte in den bald eröffneten Läden einkaufen? Wer in den Büros in Rawabi arbeiten?

Also beschloss der Unternehmer, einen Teil der Immobilien günstig zu vermieten, an jene, die sich keine Eigentumswohnung leisten können. So kamen Ahmed und Buddur Merei aus Tulkarem nach Rawabi. Ahmed Mereis Firma hatte den derzeit einzigen Supermarkt eröffnet; einen Laden, in dem es alles zu kaufen gibt, was eine arabische Familie brauchen kann, von glitzernden Geburtstagskerzen bis zum Schwarzwaschmittel für den Hidschab.

Als bei einem Besuch bei den Mereis die Klingel nicht funktioniert, sagt Ahmed Merei stolz: „Kein Problem! Ich rufe Rawabi an“.

In Rawabi gibt es für alles eine Notfallnummer: Streikt der Aufzug, wird er binnen Stunden repariert. Liegt Müll auf der Straße, räumen Arbeiter ihn weg. Auf Bitten der Anwohner hat Rawabi eine Buslinie nach Ramallah eingerichtet.

Rawabi, witzeln die Bewohner, sorge besser für sie als die palästinensische Führung.

Die Mereis sind der konservative Kontrastentwurf zu Familie Mansour. Die Teppiche in ihrer Wohnung sind schwerer, die Tapeten blumiger. Bevor Buddur Merei das Haus verlässt, verhüllt sich die 28-Jährige in einem knöchellangen Gewand. Wenn sie spricht, schlägt sie die Augen nieder, aus Sittsamkeit.

Für Ahmed und Buddur Merei bedeutete der Umzug nach Rawabi einen Aufbruch. Er wurde zum Filialleiter befördert, sie zog erstmals fort von ihren Eltern und Geschwistern. Nun leben sie in einer Fünfzimmerwohnung mit Edelstahlküche und wassersparender Toilette und fühlen sich wie Pioniere. „Rawabi ist eine Chance“, sagt Buddur Merei. „Es ist der erste Schritt auf dem Weg zu einem palästinensischen Staat.“

Als Palästinenserin ist Buddur Merei stolz auf Rawabi, auf dieses Projekt, dessen Teil sie nun ist. Als Mutter und Hausfrau sehnt sich zurück ins chaotische Tulkarem. „Ich fühle mich einsam hier“, sagt sie, während sie Zwiebeln für das Abendessen hackt. Sie hebt den Kopf und schaut sehnsüchtig aus dem Fenster, auf die leere Straße, eine verlassene Baustelle. „Ich brauche mehr Leben hier“, sagt sie.

Nur wenige Familien sind bisher hierher aufgebrochen. Die Abstimmung mit den Füßen fällt bisher gegen Rawabi aus.

Viele jener Palästinenser, die sich die Mieten leisten könnten, sind in ihren Dörfern verwurzelt. Sie sehnen die Freiheit einer modernen Stadt zwar herbei – und fürchten sie zugleich. Auch die Mereis empfinden so. Buddur Merei freut sich auf das Kino, das bald im Stadtzentrum eröffnen soll. „Aber ein Nachtclub?“ Sie schaut abschätzig. „Für uns ist das nichts“, sagt Ahmed Merei streng. „Wir werden versuchen, ihn zu umgehen.“

Rawabi versprach den Palästinensern einen westlichen Lebensstandard. Genau das sehen viele Palästinenser skeptisch. Wer in Rawabi wohne, so fürchten sie, verliere die palästinensische Sache aus den Augen – für ein paar Spielplätze und Edelstahlküchen.

Einige Organisationen bekämpfen Rawabi aktiv. Die sogenannte BDS-Bewegung (Boycott, Divestment and Sanctions), die weltweit dafür wirbt, israelische Produkte zu boykottieren, warf Baschar Masri vor, sich in Rawabi bereichern zu wollen – auf Kosten der Palästinenser. Einerseits, weil ein Teil der Baumaterialien in Rawabi aus Israel stammt. Andererseits, weil Masri sich so eng mit dem Erzfeind abstimmt.

Die BDS-Bewegung beschuldigte Masri der sogenannten „Normalisierung“ – eine Beleidigung, die sie für jene benutzt, die sich mit Israel einlassen. Sie kommt in Palästina dem Begriff eines Volksverräters gleich. Der Vorwurf hängt über Rawabi.

Baschar Masri sagt, Baumaterialien seien anders nicht zu bekommen. Und ohne Abstimmung mit Israel könne er auf dem Gebiet kein einziges Haus bauen. „Finde ich das gut?“, fragt Masri. „Natürlich nicht. Aber es geht nicht anderes.“

An Rawabi zeigt sich auch, wie uneins die Palästinenser untereinander sind. Soll man sich mit Israel versöhnen? Oder kann nur ein Boykott Freiheit bringen? Masri entschied sich für den ersten Weg. Der einstige Steinewerfer reicht den Israelis heute die Hand. Der Idealist ist ein Pragmatiker geworden. Für Rawabi, sagt er, für den Frieden. Ein Teil seines Volkes nimmt ihm das übel.

Baschar Masris wichtigstes Argument für seinen Weg sind die Jobs, die in Rawabi entstehen sollen. Fast jeder fünfte Palästinenser im Westjordanland war 2015 ohne Arbeit, unter den jungen Menschen war sogar knapp jeder Zweite arbeitslos.

Um einen Staat zu gründen, sagt Masri, müssten die Palästinenser lernen, auf eigenen Beinen zu stehen. Rawabi soll der Welt auch ein Zeichen senden: Seht, was wir aus eigener Kraft schaffen. In Rawabi, sagt Masri, könnten Tausende Arbeitsplätze entstehen.

Würde Masri dies gelingen, es wäre eine Sensation. Bisher finanziert sich die palästinensische Wirtschaft zum großen Teil von Entwicklungshilfe. Kein Land der Welt erhält pro Kopf so viel Geld von internationalen Spendern wie Palästina. Für die Palästinensische Autonomiebehörde ist Rawabi deshalb auch eine Bedrohung. Palästinenserpräsident Mahmud Abbas besuchte die Baustelle bis heute nicht ein einziges Mal – womöglich aus Angst, dass die Hilfsgelder ausbleiben, falls Rawabi Erfolg haben wird.

800 Wohnungen sind bisher in Rawabi gebaut worden, und alle, versichert die Verwaltung der Stadt, seien verkauft oder vermietet. Doch wenn Wafa Mansour nachts im Schlaf hochschreckt, lauscht sie in die Stille, die über Rawabi liegt, einer Stadt mit mächtigen Wohnblöcken und vierspurigen Straßen, aus der kein Laut zu hören ist. Wenn Buddur Merei in der Dämmerung mit ihren Söhnen zum Spielplatz schlendert, verhallen die wenigen Kinderstimmen in den Häuserschluchten.

Rawabi fühlt sich an wie ein futuristisches Freilichtmuseum.

Deswegen will Baschar Masri nun schnell Einkaufsflächen und Büros fertigstellen. An einem Nachmittag ist er unterwegs durch die Gerippe der künftigen Shopping Mall. Auf dem Weg durch die Häuserzeilen weicht er Kabeln und Betonbrocken aus, steigt über Löcher im Boden. Masri scheint all das nicht zu bemerken. „Hier kommt ein Restaurant hin“, sagt er und weist auf einen Rohbau. „Hier die Kinos. Und da vorne der Schönheitssalon.“

100 Millionen Dollar hat Baschar Masri bisher in Rawabi investiert. Israels Politik und die Boykottaufrufe seiner Landsleute haben ihn fast in den Ruin getrieben. Um weiter bauen zu können, wirbt er um palästinensische Investoren.

Die Autonomiebehörde ist keine Hilfe. Obwohl versprochen, will sie die Schule in der Stadt nun doch nicht fördern. In den palästinensischen Gebieten soll alles beim Alten bleiben.

Baschar Masri hat daher beschlossen, eine Privatschule zu eröffnen.

Er hört nicht auf zu träumen.

Erschienen in Geo

Foto: Rena Effendi

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