Der Henker und sein Richter

Ein mutiger junger Mann nimmt es mit einem Massenmörder des 20. Jahrhunderts auf: Denis Karagodin will Josef Stalin den Prozess machen, weil dieser seinen Urgroßvater hinrichten ließ. Die Anklage hat nur symbolischen Wert – doch sie bringt das Land in Aufruhr

Niemand weiß genau, wo sie die Leiche verscharrt haben. Hinter den Autowerkstätten? Oder in der Grube, in der die Straßenhunde im Müll wühlen? Denis Karagodin blickt über die Landschaft: weiße Hügel, dahinter Plattenbauten und ein rauchender Schlot. „Ich will die Mörder symbolisch vernichten“, sagt Karagodin, „Alle soll wissen, wer sie waren.“ In der Luft schweben Eiskristalle, der Wind ist schneidend wie eine Ohrfeige.

Irgendwo in der Senke, auf die Karagodin hinuntersieht, liegt ein Massengrab, verschwunden unter meterhohem Schnee. Dort, am Rand der sibirischen Stadt Tomsk, ruhen die Opfer eines Krieges, den der rote Diktator Josef Stalin gegen das eigene Volk führte. Zwischen 1927 und 1953 starben mindestens zehn Millionen Menschen durch den Befehl des Tyrannen. Einer von ihnen war Stepan Karagodin, Denis‘ Urgroßvater. Niemand wurde dafür je zur Rechenschaft gezogen.

Denis Karagodin, 35 Jahre alt, Politikwissenschaftler,  will das ändern. Er will erreichen, was in Russland noch heute undenkbar erscheint: Josef Stalin soll als Massenmörder schuldig gesprochen werden.

Denis Karagodin hat die Gesichtszüge eines Boxers, kantig, wie gemeißelt. An jenem Ort, an den Stalins Schergen einst ihre Opfer verschleppten, liegt zu Karagodins Rechten ein kastenförmiges Gefängnis, das noch heute in Betrieb ist. Links ein Industriegebiet: rostige Garagen, parkende Autos, dazwischen Werkstätten. „Dort drüben fanden die Erschießungen statt“, sagt Karagodin und zeigt auf die Haftanstalt. Er fährt mit dem Finger über den Horizont, bis zu den Fabrikanlagen. „Irgendwo da hinten entsorgte man die Leichen.“

In Karagodins Augenbrauen sammeln sich Schneeflocken. Sein Tonfall ist ungerührt. Karagodin nennt sich selbst „kaltblütig“. Vielleicht erklärt diese Kälte, wie er vollbrachte, was niemandem vor ihm gelang.

Alles begann mit einem alten Schriftstück. Im Frühjahr 2012 wollte Denis Karagodin seine Familienpapiere digitalisieren: Geburtsurkunden, Zeugnisse, Kaufverträge. Er mag Technik und Ordnung, schätzt Klarheit und Struktur.
Im Schrank seiner Eltern stieß er auf ein Dokument, das er nie zuvor gesehen hatte. Dünnes Papier, kaum DINA 5 groß, mit rissigen Kanten: die Urkunde über die Rehabilitierung seines Urgroßvaters. Ein formales Schreiben, das viele Angehörige von Stalin-Opfern in den 1950er Jahren bekommen hatten.

Schon als Kind hatte Karagodin gewusst, dass sein Urgroßvater unter Stalin umgekommen war, so wie er wusste, dass es im Winter schneite. Es war eine Gewissheit, die ihm niemand erklärt hatte, sondern mit der man in Tomsk geboren zu sein schien.

An jenem Apriltag 2012 breitete Karagodin alle Dokumente auf seinem Tisch aus. Es waren Zeugnisse über das Leben und Sterben seiner Verwandten: Ein Echo der Menschen, die zu seiner Familie gehörten. Von seinem Urgroßvater Stepan aber gab es nur dieses eine Papier. Karagodin sah es an, und zum ersten Mal fragte er sich, was genau mit seinem Urgroßvater geschehen war.

Er wandte sich an das Tomsker Standesamt; dort überreichte man ihm die Todesurkunde seines Urgroßvaters. „Gestorben am 21. Januar 1938. Todesursache: Erschießung.“

Die Stadt Tomsk, in der Karagodins Urgroßvater bis zu seinem Tod lebte und in der sein Urenkel bis heute wohnt, ist ein stilles Mahnmal stalinistischen Terrors. Der Name ist eine Abkürzung für „Der ferne Ort der Verbannung in der Taiga“. In diese Gegend schickte Stalin jene, die er verdächtigte, den Sozialismus zu sabotieren. Heute wohnen eine halbe Million Menschen in Tomsk. Fast jeder von ihnen hat Vorfahren durch Stalins Diktatur verloren.

Meist kam Stalins Geheimdienst NKWD nachts, klopften Männer in dunklen Uniformen an die Tür. Das Schweigen der Hinterbliebenen wurde ihr Schutz: Nach Sinn und Recht zu fragen, war in diesen Zeiten gefährlich. Diese Regel haben viele Russen bis heute verinnerlicht. Man kritisiert die Obrigkeit nicht. Sieht weg, anstatt Fragen zu stellen. Denis Karagodin aber wollte wissen, wofür sein Urgroßvater gestorben war. Und durch wen.

Karagodin wandte sich an den Inlandsgeheimdienst FSB, der Nachfolgeorganisation des NKWD. Der Urenkel verlangte die Herausgabe jener Akten, die den Tod seines Urgroßvaters dokumentierten. Er bekam geschwärzte Papiere.

„Wie kann es sein, dass ein Mord geschieht“, fragt Karagodin, „und niemand wird dafür verurteilt?“ Karagodin bohrte weiter. In jenem April setzte sich etwas in Gang, das heute, fünf Jahre später, das Land spaltet.

Karagodin schrieb Anfragen, stellte Anträge. Die Absagen legte er in einen Ordner, 7,5 Zentimeter dick. Der Ordner füllte sich so schnell, dass er sich bald nicht mehr schließen ließ. Karagodin wurde zu einem Virus, das sich – einmal im System – nicht mehr löschen lässt. Er schrieb an Zweigstellen, klein und entlegen, in der Hoffnung, dass man dort nichts von der Direktive des Verheimlichens wusste. Gab es keine Antwort, machte er sich auf den Weg, klopfte an Türen. Nach und nach bekam er immer mehr Papiere: Anklagen, Verhörprotokolle, Todeslisten, unterschrieben von Stalins Untergebenen. Weil die Namen der direkten Mörder stets geschwärzt waren, sammelte er Informationen zu allen Männern und Frauen, die in den Jahren 1937 und 1938 beim Tomsker NKWD gearbeitet hatten. Karagodin verbrachte Stunden im Lesesaal der Uni-Bibliothek: blätterte in alten Zeitungen, schrieb jeden Namen heraus, der in Verbindung mit dem NKWD auftauchte. Erst waren es drei Personen, dann zehn. Irgendwann standen fast 70 Männer und Frauen auf seiner Liste. Doch wer von ihnen hatte die Erschießung seines Urgroßvaters vollstreckt?

Karagodin rekonstruierte, wie sein Urgroßvater gelebt hatte. In der Altstadt von Tomsk fand er das alte Wohnhaus, einen einstöckigen Bau aus rotem Backstein. Er lokalisierte das Gebäude, in dem Stepan Karagodin verhört und wegen angeblicher Spionage für Japan verurteilt wurde. Besuchte die Kirche, in der seine Urgroßmutter jeden Tag für die Freilassung ihres Mannes betete. Schließlich stand Denis Karagodin vor jener Grube, wo, tief unter der Erde, noch immer die Gebeine seines Urgroßvaters lagen. Karagodin hat alle Orte auf einer Karte markiert: eine Topographie des Terrors.

Man sieht Tomsk den Schrecken dieser Zeit nicht an. Klassizistische Bauten reihen sich an Holzhäuser aus dem 19. Jahrhundert. Es gibt Straßen, die aussehen wie Dörfer aus russischen Fabeln: mit geschwungenen Fensterläden und geschnitzten Fassaden, an den Dächern Eiszapfen so groß wie Tropfsteine.

Auf dem zentralen Platz in Tomsk, nahe des Lenin-Boulevards, wächst heute ein Birkenwäldchen; im Winter bauen Kinder Schneemänner oder rutschen mit dem Schlitten über die Hügel. Früher stand hier eine Kirche: weiß mit goldenen Kuppeln, eine Nachbildung der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale. Sie wurde 1934 von den Kommunisten zerstört. Jeder Bewohner von Tomsk weiß das, genauso wie er um Stalins Opfer weiß. Trotzdem gibt es im Souvenir-Shop nebenan Miniatur-Büsten Stalins zu kaufen, für 300 Rubel das Stück, etwa fünf Euro. Wie geht das zusammen: Massenmord und Verehrung?

Es gibt einen Ort in Tomsk, wo man Stalins Barbarei noch sehen kann, deutlich und ungeschönt. Er ist geschützt von einer schweren Eisentür, dahinter führen abgewetzte Holzstufen in den Keller. Mit jedem Schritt nach unten wird die Luft feuchter, stickiger, als steige man hinab in ein Verlies. Vor 70 Jahren waren diese Räume genau das: ein Kerker. Hier, mitten im Stadtzentrum, befand sich das Verhörgefängnis des NKWD. Heute ist es ein Museum, betrieben von der Menschenrechtsorganisation „Memorial“.

Etwa 15 000 Menschen passierten dieses Gefängnis. Die meisten blieben nur kurz, dann wurden sie in Arbeitslager gesandt oder erschossen. Stalin wusste, dass die allermeisten unschuldig waren. Wenn nur fünf Prozent der willkürlich Verhafteten echte Saboteure seien, sagte er 1937, dann habe sich die Arbeit gelohnt.

Er versprach, nicht nur jeden dieser „Feinde“ zu vernichten, sondern auch ihre Familien. Die Wände im Museum sind mit Fotos beklebt: schwarz-weiße Zeugnisse von Männern und Frauen, die getötet oder deportiert wurden. Es gibt einen Verhörtisch, an den Besucher sich setzen können. Auf der Tischplatte liegen Protokolle echter Fälle, im Aschenbecher sowjetische Papirossy, eine Zigarettenart, die auch Stalin rauchte. Ein Ausstellungsraum zeigt eine Karte von Stalins Straflagern; die Deportationswege schlängeln sich über das Land wie ein Schienennetz.

Juri Kobenko blickt auf die Linien, abschätzig, als sei er unzufrieden mit deren Verlauf. „Für mich ist diese Karte Propaganda“, sagt Kobenko schließlich. „Mehr noch: Sie ist historischer Dreck.“ Kobenko, 39 Jahre alt, von Beruf Philologie-Professor, ist so etwas wie Karagodins politisches Gegenstück. Er bewundert Stalin und nennt ihn ein „Genie“. Wo Denis Karagodin die Geschichte ausgräbt, schütten Menschen wie Juri Kobenko sie zu.

Kobenko hat Charisma und geschliffene Manieren: Er trägt dunkle Anzüge und hilft Damen in den Mantel. Durch die Räume von Memorial geht er mit dem aufrechten Gang eines Tänzers. Ab und an bleibt Kobenko stehen, schaut kritisch auf die Exponate.

An einer Wand ist ein Befehl zur Deportation aufgehängt, unterschrieben von Stalin. „Sehen Sie, wie simpel seine Unterschrift ist?“, fragt Kobenko und zeigt auf die Buchstaben. „Jeder hätte sie kopieren können.“ Er lächelt milde, so als hätte ein besonders schlechtes Plagiat in der Magisterarbeit eines Studenten entdeckt.

Geschichte wird von den Siegern geschrieben: Die Nürnberger Prozesse waren ein Tribunal der Alliierten, die den Krieg gewannen. Doch während Nazi-Deutschland unterging, regierte der Kommunismus in Russland bis 1991. Ein autoritäres System, das seine Bürger zu Hörigkeit erzog.

Für viele Russen ist Stalin deshalb kein Mörder. Sondern ein großer Politiker, der seinem Land zu wirtschaftlicher Stärke verhalf – und es vor Hitlers Feldzug rettete. So hat man es ihnen beigebracht, jahrzehntelang, so wird es heute gelehrt. Russlands Geschichte soll eine Abhandlung von Siegen sein und die Person Stalin den Stolz einer ganzen Epoche verkörpern: dem Zeitalter der Sowjetunion.

Wenn Juri Kobenko an jene Zeit zurückdenkt, dann fällt ihm der Urlaub ein, den er als Junge mit seinen Eltern unternahm. Sie fuhren nach Sewastopol, einer Stadt auf der Krim. Die Zugfahrt dauerte eine Woche und endete an einem weißen Sandstrand, wo Fisch verkauft wurde und gebräunte Touristen Wassermelone aßen. Kobenko lief durch die gleißenden Straßen, sonnte sich im warmen Licht und spürte Glück

„Und heute?“, fragt Kobenko. Er kann sich eine solche Reise nicht mehr leisten. Kobenko muss Schulden abstottern, den Kredit für seine Wohnung bezahlen. Dazu versorgt er seine Mutter, deren Rente so niedrig ist, dass das Geld nicht einmal für einen Ausflug in die nächste Stadt reicht. Zeitgleich leben Russlands Politiker im Reichtum wie Oligarchen. „Stalin dagegen war bescheiden“, sagt Kobenko. „Er hatte sich seinem Volk verschrieben.“

Im Memorial-Museum gibt es einen Raum, der einer Verhörzelle des NKWD nachempfunden ist. Holzpritschen, vergitterte Fenster, ein Eimer als Toilette. Auf diesen elf Quadratmetern lebten einst bis zu dreißig Häftlinge. Sie wurden gefoltert, geschlagen und ausgehungert, viele anschließend erschossen. „Ein Untersuchungsgefängnis ist eben kein Fünf-Sterne-Hotel“, sagt Kobenko. „Es gab damals viele Spione und Verräter.“ Stalin habe das Land nur vor Feinden schützen wollen. Es ist die Mentalität des Totalitären: Das Wohl aller steht über das Wohl des Einzelnen, auch wenn dieser dafür sterben muss. Die hohen Opferzahlen hält Kobenko dennoch für übertrieben. Er streicht sich den Anzug glatt, dann verlässt er das Museum und tritt hinaus in den sibirischen Schnee.

Einer aktuellen Umfrage zufolge halten 38 Prozent der Russen Stalin für die herausragendste Persönlichkeit aller Zeiten.

In vergangenen Jahren öffneten russlandweit Stalin-Museen, Schulhelfe mit Stalins Konterfei waren Bestseller. Viele bewundern Stalin, weil sie die Geschichte ihres Landes nicht im Detail kennen. Sein dem Zerfall der Sowjetunion in der 1990er Jahren sind viele Archive zwar geöffnet. Aber das Interesse an Aufarbeitung ist gering, eine „Erinnerungskultur“ gar gibt es nicht.

Denn einige der stalinistischen Behörden bestehen noch immer: Sie wurden nie aufgelöst, sondern nur umbenannt. So wie der Geheimdienst NKWD, der sich irgendwann KGB nannte und heute FSB heißt. Ein ehemaliger KGB-Offizier ist heute Staatspräsident: Wladimir Putin. Das System schützt Stalins Handlanger nach wie vor.

Denis Karagodin brauchte Jahre, um das System zu durchdringen. Tagsüber arbeitete er als Marketingexperte, erstellte Werbekampagnen für Mobilfunkfirmen und Restaurants. Wenn sich der Himmel über Tomsk abends rot färbte, begann Karagodin zu grübeln: An welche Stelle sollte er sich als nächstes wenden? Welchen Hinweis hatte er übersehen? Um sich besser konzentrieren zu können, strich Karagodin die Wände seines Zimmers weiß. Hielt seinen Schreibtisch leer wie einen Operationstisch.

Sein Zimmer wirkt so kalt wie Karagodin selbst. Alle Zeichen an ihm stehen auf Angriff: Er lächelt Fremde nie an, und seine Haltung ist so angespannt, als könnte er jeden Moment zum Schlag ausholen. Diese Härte half ihm im Kampf gegen die Behörden. Weil er eisern war, schaffte er es, die Mauern des Schweigens zu durchbrechen.

Immer wieder stellte Karagodin Anfragen an den FSB. Stand in Behördenschlangen und wartete in Vorzimmern, in denen die Karten von Russland inzwischen um die Krim erweitert wurden. Doch die Namen der Henker schienen wie verschüttet.

Manchmal halfen Karagodin einzelne Beamte – oft behinderten sie ihn. Mal hatte er keine Kopie seines Ausweises mitgebracht. Mal den Antrag mit einem schwarzen, statt wie gefordert mit einem blauen Stift unterschrieben.

Im Sommer 2016 lief die Verjährungsfrist für die Akten seines Urgroßvaters aus. Offiziell mussten ihm die Behörden nun alle Dokumente überlassen, inklusive Schießbefehl und Klarnamen. Stattdessen teilte man Karagodin mit, das Papier sei inzwischen vernichtet worden. Der Schnee auf Stalins Verbrechen wuchs immer höher. Es schien, als grabe Denis Karagodin umsonst.

An einem Samstag im November 2016 bekam Karagodin einen merkwürdigen Brief. Er war über und über mit Stempeln bedeckt, so als sei er mehrfach verschickt worden. Karagodin schnitt den Umschlag auf – und erstarrte. Im Kuvert lag, sorgfältig gefaltet, der Erschießungsbefehl seines Urgroßvaters, unterschrieben von den zwei Männern und einer Frau, die ihn ermordet hatten. Es war jenes Papier, von dem der FSB behauptet hatte, es existiere nicht mehr.

Karagodin weiß bis heute nicht, warum er dieses letzte Dokument bekam. Vermutlich hatte ein ahnungsloser Beamter es abgeschickt, nicht wissend, welch sensible Information es enthielt. Karagodin hatte eine Schwachstelle im System gefunden.

Legt man nun alle Dokumente nebeneinander, ergeben sie eine Befehlskette. Sie beginnt mit dem Beschluss Nummer P51/94 des Politbüro der Kommunistischen Partei, gefasst am 2. Juli 1937: die Erlaubnis des NKWD, „antisowjetische Elemente“ zu inhaftieren und zu töten. Der Beschluss trägt die Unterschrift Stalins. Das letzte Papier ordnet den Tod von Stepan Karagodin an, zusammen mit weiteren „Volksfeinden“.

An jenem Novembertag ging Denis Karagodin noch einmal den Weg ab, den sein Urgroßvater genommen hatte. Er lief vorbei am „Memorial-Museum“ und dem zentralen Platz, der so leer ist, als habe man vergessen, ihn zu bebauen. Karagodin passierte das Gerichtsgebäude, in dem sein Urgroßvater verurteilt wurde und das Gefängnis, in dem er starb.

Er erinnert sich, dass es ganz still war in den Straßen: Außer ihm war kein Mensch unterwegs. Der Schnee fiel in dicken Flocken, so langsam und dicht, als ginge man durch Nebel. Karagodin störte das nicht. Er wusste, dass der Winter bald vorüber sein würde.

Nun will er das Material in einen offiziellen Schuldspruch verwandeln.  Mord ist Mord, sagt Karagodin. Die russischen Gerichte seien juristisch  verpflichtet, die Erschießung seines Urgroßvater zu verfolgen. Am Ende des Prozesses würden sie zwar den Tod der Täter festhalten müssen. Aber auch ihre Schuld – bis hinauf zu Stalin.

Es wäre eine Sensation.

Seit Karagodins Pläne bekannt wurden, ist in Russland eine Diskussion entbrannt. Im Netz beschimpft man ihn als Volksverräter. Selbst einige Nachfahren von Stalin-Opfern sehen Karagodins Arbeit kritisch. 60 Jahre nach dem Tod des Diktators, sagen sie, spalte Karagodin das Land in Opfer und Täter. Wäre es nicht besser, die Vergangenheit zu vergessen? Sie für immer in der sibirischen Erde zu begraben?

„Um etwas zu vergessen“, meint Karagodin, „muss man sich erst einmal daran erinnern.“

Erschienen in GEO.

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