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Ich lass dich nicht los

Jana ist eine junge Studentin, klug und schön. Doch sie hat ein Geheimnis, das sie krank macht. Ihren drogenabhängigen Bruder 

Rausch

Als Jana geboren wurde, war Maxim 14 Jahre alt. Ein Teenager mit dunklem Haar und einem Lächeln irgendwo zwischen Verletzlichkeit und Arroganz. An einem Januarmorgen hatten die Wehen eingesetzt. Maxims Vater war auf Geschäftsreise, also brachte Maxim seine Mutter ins Krankenhaus. Weil er älter aussah, hielten die Ärzte Maxim für den Vater des Kindes. Gegen 11.30 Uhr legten sie ihm das Baby in den Arm: Janas Haut schimmerte blau, die Stirn war noch mit Blut befleckt. Maxim hatte nun eine kleine Schwester.

„Ich war so, so, so, so glücklich“, schreibt Maxim heute, 22 Jahre später. Jana hat Geburtstag, Maxim hat ihr eine Karte geschickt: graue, krakelige Buchstaben auf weißem Grund. Darin beschreibt er den Tag, als Jana geboren wurde. „Und jetzt, 22 Jahre später, sieh uns an, wo wir stehen.“

Sucht

Wann hatte Jana das Wort „Heroin“ zum ersten Mal gehört? Sie erinnert sich nicht. Es ist, als wäre der Begriff schon immer in ihrem Leben gewesen. Als hätte sie ihn auf Maxims Arm kennengelernt und seither nie mehr vergessen, so wie ein Kind den Geruch seiner Mutter nie vergisst.

Die ersten Jahre war Maxim ein toller Bruder. Er schob Jana im Kinderwagen und trug sie auf dem Arm, er kaufte ihr Schokoeis und fuhr mit Jana zu ihrem Lieblingssee, um Enten zu füttern. Einmal schenkte er Jana zum Geburtstag einen echten Hasen, schwarz und flauschig. Janas Eltern hatten Haustiere nicht erlaubt – Maxim kaufte ihn trotzdem. Jana nannte ihn Blacky.

Maxim war nach der Realschule mit seiner Freundin zusammengezogen, da war Jana noch ein Kind. Doch er schickte Jana Blumen. Nannte sie „mein Entlein“. Wenn Jana mit ihrem Vater stritt, kam Maxim und stellte sich dazwischen, um die Schläge abzufangen.

Maxim liebte Jana mit dem Übermaß eines Menschen, der keine Grenzen kennt. Und trotzdem spürte Jana, dass auf Maxims Liebe kein Verlass war. Dass es etwas gab, das ihm wichtiger war als sie.

Jana weiß nicht genau, wann es begonnen hatte, und warum. Waren es die falschen Freunde gewesen, die Ukrainer, mit denen er in der Realschule rumhing? Die Angst vor dem prügelnden Vater? Die Einsamkeit eines Einwandererkindes? „Ich habe mich das oft gefragt“, sagt Jana heute, „aber keine Antwort gefunden.“

Janas Familie stammt aus Russland, wo sie als Juden diskriminiert wurden. Der Vater war ein meisterhafter Dame-Spieler und hatte Profi werden wollen. Doch die Ausbildung blieb ihm verwehrt. Janas Mutter arbeitete als Bibliothekarin. 1990 kam die Familie nach Deutschland, als Flüchtlinge. Maxim war zehn. Wenige Jahre später wurde er heroinabhängig.

Heroin ist die Droge der Verzweifelten. Sie ist der schönste Flug und der tiefste Fall: Ein Schuss besiegelt die Sucht. Wer Heroin nimmt, verfällt ihm sofort.

Besonders oft tun das Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion. In kaum einem Land wird so viel Heroin konsumiert wie in Russland. Den Hang zum Rausch nehmen Russen mit in die Fremde, er übersteht Generationen. Noch immer werden russische Einwanderer und ihre Kinder in Deutschland deutlich häufiger heroinsüchtig als Einheimische.

Absturz

Seit sie denken kann, wusste Jana, dass es zwei Maxims gab. Einen, der sie in Schutz nahm, ihr über den Kopf strich, wenn sie weinte. Und den, der manchmal auf dem Sofa lag, bleich und mit aufgerissenen Augen. Vor dem die Nachbarskinder sich fürchteten, wenn er über den Hof wankte.

Jana erinnert sich, dass ihr Vater oft schrie, wenn Maxim zu Besuch war. Dass die Mutter an der Badezimmertür klopfte, wenn er sich dort einschloss. Jahrelang ging das so. Dazwischen Jana, ein Kind, das nicht verstand, was ihr Bruder verbrochen hatte.

Janas stärkste Erinnerung spielt an einem warmen Sommertag im Jahr 2004. Maxim geht die Straße entlang, er hält Jana an der Hand. Die Sonne scheint, die Luft ist dicht und warm. Maxim hat Tränen in den Augen. Irgendwann nimmt er Jana auf den Arm. Dann weinen sie zusammen, auch wenn Jana nicht weiß warum. Sie ist damals neun Jahre alt.

Kurz darauf schickten die Eltern Maxim nach Russland. Er sollte einen Entzug machen, auf einer Datscha in den russischen Wäldern. Stattdessen zeugt er ein Kind mit der Tochter des Besitzers. Als sein Sohn auf die Welt kommt, spritzt er sich eine Überdosis. Seine Freundin findet ihn leblos im Auto, den Arm abgeschnürt, auf dem Beifahrersitz eine blutige Spritze.

Scham

Wer Jana heute trifft, hält sie für makellos. Sie ist 22 Jahre alt, groß und sehr schlank, hat langes, dunkles Haar und die Ausstrahlung einer Intellektuellen. Sie studiert Geschichte und Politikwissenschaft, spricht in klugen, verschachtelten Sätzen und trägt Kaschmirpullover zu dunklen Jeans. Sie scheint scharfsinnig und schön, nahezu perfekt.

Jana ist nicht so geboren – sie hat sich erschaffen. Ihre tadellose Kleidung ist ein Panzer gegen Fragen nach ihrer Herkunft. Ihre Ausdrucksweise schützt sie. Davor, dass jemand erkennt, woher sie wirklich stammt. Die mit den armen Eltern. Die mit dem kriminellen Bruder. Manche haben sich von ihr abgewandt, als sie davon erfuhren. Das soll ihr nicht wieder passieren. Deshalb tragen sie und ihr Bruder in dieser Geschichte nicht ihre echten Namen.

Nach seiner Überdosis brachte man Maxim in eine russische Klinik. Die Ärzte spritzten ihm ein Gegenmittel und entließen ihn. Seine Freundin fürchtete um das Kind und setzte ihn auf die Straße. Also flog Maxim wieder nach Deutschland. Machte einen Entzug, kehrte nach Russland zurück. Wurde wieder rückfällig. Ein Bekannter fand ihn an einem Wintertag auf der Hauptstraße von St. Petersburg, bewusstlos, gelähmt vor Drogen.

Russische Erziehung ist eine der Härte: Man treibt seine Kinder mit eiserner Hand ins Glück. Wer scheitert, gilt als schwach. Als Maxim seinem Vater im Alter von 15 Jahren beichtete, dass er drogenabhängig sei, zerbrach der aus Wut ein Telefon auf seinem Kopf. Nach Maxims neuerlichem Rückfall ließ der Vater ihn nicht mehr ins Haus.

Zurück in Deutschland zog Maxim in eine Obdachlosenunterkunft. Im Treppenhaus roch es nach Urin, die Wände atmeten kalten Qualm. Das Licht funktionierte nicht, und im Zimmer lagen Spritzen und Löffel für das Heroin.

Manchmal, wenn der Vater nicht zu Hause war, öffnete Janas Mutter Maxim die Tür. Er hatte Wunden in den Armen, schwarze Löcher, in denen sich das Blut staute. Mal war er aufgekratzt, mal apathisch. Er wusch sich, aß. Wenn er fort war, versprühte die Mutter Desinfektionsmittel, überall dort, wo Maxim gesessen hatte.

Jana war da 14 Jahre alt – so alt wie ihr Bruder bei ihrer Geburt. Sie war ein rebellischer Teenager. Trug Creolen und rauchte eine halbe Schachtel Zigaretten am Tag. Einmal lungerte sie mit Freunden vor dem Burger King herum, als sie ihn plötzlich erblickte. Seine Kleidung war voller Flecken, seine Schuhe zerfetzt. In jeder Hand hielt Maxim eine Plastiktüte.

Er sah Jana an: Seine Augen waren rot und voller Verzweiflung. „Bitte komm nicht her“, flehte Jana innerlich. „Blamier mich nicht vor meinen Freunden.“ Maxim blieb stehen, setzte an. Doch dann senkte er den Blick und ging vorbei. „Warum bin ich nicht auf ihn zugegangen?“, fragt sich Jana heute. „Wie konnten wir ihn nur alle verlassen?“

Zerstörung

Etwa zu jener Zeit, also mit 14 oder 15 Jahren, merkte Jana, dass es nicht nur Maxim doppelt gab. Auch sie selbst gab es zweimal. Es gab die Jana, die sich um ihre Familie sorgte: um den Vater, der sein Erspartes in Maxims Entzüge gesteckt hatte und der die Geldsorgen nun in Wodka ertränkte; um die Mutter, die oft kaum Antrieb fand, um aufzustehen; es gab die Jana, die sich fragte, wo Maxim gerade war und ob es ihm gut ging.

Und es gab jene Jana, die manchmal derart tobte, dass Dinge zu Bruch gingen. Die Handys kaputt machte und so laut schrie, dass man sie im ganzen Haus hörte. Die nächtelang in Clubs tanzte und, benebelt von Tequila, nach Hause wankte. Keine Klausur mehr bestand, weil ihr Zahlen und Vokabeln bedeutungslos schienen. Die ihre Eltern ansah und schreien wollte vor Ohnmacht.

„Sie überfordern das Kind“, sagte die Mutter einer Schulfreundin zu Janas Eltern. Die verstanden nicht. Aber Jana fühlte es. Nichts hielten sie von ihr fern.

2009 stand Maxim zum ersten Mal vor Gericht. Er hatte in einem Großhandel Tabak gestohlen und ein Casino überfallen. Der Richter verurteilte ihn zu mehreren Jahren Haft. „Ich hasse dich“, schrieb Jana Maxim ins Gefängnis. „Du hast uns alle zerstört.“

Hoffnung

Wovon hängt es ab, ob ein Mensch sein Leben schafft oder daran scheitert? Von Intelligenz? Erziehung? Innerem Antrieb? Mut?

Womöglich kommt es auf einen Moment an, auf die richtige Fügung zur richtigen Zeit. Wie ein Schalter, der sich umlegt. Eine Wand im Labyrinth, die sich verschiebt und einen Weg freigibt: von Unglück zu Glück. Bei Jana war dieser Ausweg ein Buch von Erich Maria Remarque.

In den Sommerferien der neunten Klasse überflog Jana die Bücherliste, die die Deutschlehrerin ihr über die Ferien mitgegeben hatte. Darauf stand Drei Kameraden, ein Roman über die Liebe, den Tod und die „verlorene Generation“ jener junger Menschen, die den Ersten Weltkrieg erlebt hatten.

Jana begann zu lesen – und hörte nicht mehr auf. In der Stadtbücherei lieh sie sich alle Werke von Remarque. Dann die Bücher von Hans Fallada. Dann Lion Feuchtwanger, Victor Hugo, Stefan Zweig.

Zeitlebens hatte Jana nur das Leid ihrer Familie erlebt, das Drama der Drogen. Nun las sie von Krieg und Vertreibung, von einer Welt aus den Fugen, und ihr eigenes Elend schien ihr plötzlich weniger schlimm.

Dazu kam das Bild ihrer Eltern, die immer mehr in Apathie versanken. Und die Jana ermahnten: Du bist unsere Hoffnung. Du darfst nicht scheitern.

Am Ende des Jahres schrieb Jana nur Einsen. Sie bestand das Abitur und wechselte auf die Universität.

Mit Maxim sprach sie in dieser Zeit kaum.

Abkehr

Im Jahr 2012 kam Maxim auf Bewährung frei. Seine Auflage war eine Therapie: Von der JVA sollte er direkt in die Klinik fahren.

Janas Vater erwähnte den Sohn seit Jahren nicht mehr. Die Mutter konnte von ihrem Job im Supermarkt nicht freinehmen. Also holte Jana, damals 17 Jahre alt, Maxim aus dem Gefängnis ab. Nicht weil sie wollte. Sondern weil niemand anderes es tat.

Jana sah ihn schon von Weitem. Es war ein kalter Herbsttag im Oktober 2012: Maxim stand vor der JVA, eingepackt in eine Daunenjacke, die dunkle Mütze tief ins Gesicht gezogen. Jana merkte sofort, dass etwas nicht stimmte. Maxim hüpfte von einem Bein auf das andere, gestikulierte wild. „Wir fahren jetzt zur Klinik“, sagte Jana. „Auf keinen Fall!“, rief Maxim. „Wir fahren jetzt zu Peek & Cloppenburg und kaufen mir neue Unterhosen!“

Jana verstand, dass Maxim voller Drogen war. Offenbar hatte man ihn früher entlassen, und er hatte irgendwo Stoff besorgt und sich einen Schuss gesetzt.

Sie stiegen ins Taxi. „Wohin?“, fragte der Fahrer. „In die Klinik“, sagte Jana. „Vergiss es“, sagte Maxim.

Wie hilft man einem Menschen, der keine Hilfe will? Der über die Klippe springt, immer und immer wieder? Seine Familie mit in den Abgrund reißt – und es doch nicht ändern kann? Jana sah Maxim an und spürte nichts als Hilflosigkeit.

„Ich steige sofort aus, wenn wir nicht in die Klinik fahren“, sagte Jana. Maxim lachte nur. An einem Bahnhof verließ Jana das Taxi.

Wo ging Maxim danach hin? Wie überlebte er? Jana weiß es bis heute nicht.

„Es war mir egal“, sagt Jana.

Rettung

Jana hätte erleichtert sein sollen, doch sie war es nicht. Maxim war fort – aber die Sorgen blieben. Nachts lag Jana wach, und ihre Gedanken rasten, wie ein Auto, das sich jeden Moment überschlagen konnte. Am Morgen wachte sie auf, und ihre Bettwäsche war befleckt von Blut: In ihrem Wahn hatte sie sich Wunden in ihre Beine gekratzt, so tief, dass sie nie mehr ganz verheilten.

Einmal, im Urlaub in Frankreich, spazierte Jana über eine Wiese. Alles blühte, und der Himmel hatte die Farbe des nahen Wasserfalls. Jana lief durch diese Kulisse, und plötzlich war es, als würde in ihr ein Fahrstuhl abstürzen. Alles zog sie hinunter, mit einer Wucht, die sie zu Boden riss. Jana spürte, wie sie innerlich aufschlug. Es war alles so sinnlos.

Das Gefühl verschwand, als Jana 2014 Daniel kennenlernte. Er, ein feinsinniger Psychologiestudent, war der erste Mensch, dem sie von Maxim erzählte. Er riet ihr zu einer Therapie. Man diagnostizierte eine Persönlichkeitsstörung und eine Depression.

Jana ging nun regelmäßig zu den Sitzungen. In der Uni diskutierte sie über politische Theorie und Argumentationslogik, las Thomas Hobbes und Aristoteles. Sie war stolz, wenn sie gelobt wurde, und hatte Freude am Lernen. Bücher wurden ihr Halt, ihr Fluchtpunkt. Wann immer sie konnte, tauschte sie den Wahnsinn ihrer Familie gegen die Welt der Wissenschaft.

Verzweiflung

Maxim saß ab 2013 wieder im Gefängnis. Er schrieb Jana Briefe, erzählte von der Vergangenheit: seinem Entzug in Russland, der Überdosis, der Geburt seines Sohnes. Dinge, nach denen Jana nie gefragt hatte. Maxim schrieb sie trotzdem, seitenlang, als wolle er beichten. Als hoffe er, dass die Schuld mit den Zeilen von ihm weicht. Jana antwortete nicht. Manchmal überfiel sie das schlechte Gewissen: Dann rief sie in der JVA an und ließ sich auf den Besucherzettel schreiben. Doch sie ging nie hin.

Im Herbst 2016 bekam Jana einen Anruf. Maxim saß inzwischen in Isolationshaft, weil er einen Beamten angegriffen hatte. Am Telefon war Maxims Anwältin. Er werde abgeschoben, sagte die Frau.

Anders als Jana hatte Maxim nie die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt. Nun sollte er Deutschland verlassen: Zu oft war er straffällig geworden.

In Russland sind Drogensüchtige geächtet, es gibt kaum Einrichtungen, die sie behandeln. Er müsste auf der Straße leben, in einem Land, das weder Fürsorge kennt noch Gnade. „Das ist sein Tod“, dachte Jana. „Er wird sich dort zugrunde richten. Und uns mit.“

Jana hätte auflegen können. Sagen, dass Maxims Leben sie nichts mehr anging. Dass sie ihn nicht retten konnte. „Aber er ist doch mein Bruder“, dachte Jana. Er hatte sie ins Leben begleitet. Sollte sie ihn nun sterben lassen?

Jana begann, regelmäßig mit der Anwältin zu sprechen. Kontaktierte Sozialarbeiter und Hilfsorganisationen. Sie telefonierte zwischen den Vorlesungen und in der Cafeteria, stets darauf bedacht, dass niemand sie hörte.

Sie nahm Kontakt zu Maxim auf, reichte ihm zögerlich einen Finger. Überwies ihm Geld, damit er telefonieren konnte, bot ihm an, sie anzurufen, wenn er Kummer hatte. Maxim nahm die ganze Hand: Jana sollte ihm noch mehr Geld schicken, mit seinen Betreuern sprechen, vorbeikommen. Manchmal rief Maxim ein Dutzend Mal am Tag an. Wenn Jana ihn um Mäßigung bat, wurde Maxim grob. „Du Miststück“, schrieb er. „Komm mich nur besuchen, dann reiße ich dir die Zunge raus.“ Es waren die Drogen, die aus ihm sprachen: ein Mensch, versklavt und zerfressen vom Heroin. Jana wusste das – und trotzdem stürzte jeder Brief sie ins Bodenlose. Ließ sie weinen, zittern, Kette rauchen. Jana wandelte auf einem schmalen Grat zwischen Selbstlosigkeit und Selbstzerstörung. Drohte Maxim, den Kontakt abzubrechen – und tat es doch nicht.

Sehnsucht

Maxim ist wie ein Schatten, der sich über Janas Leben gelegt hat. Eine Sepsis, die sich ausbreitet und ihr langsam die Kraft entzieht.

Im Frühjahr 2017 schafft Jana ihre Prüfungen nicht. Daniel hat sich von ihr getrennt. Jana raucht zu viel und isst zu wenig, und zwei Therapeuten können nicht verhindern, dass sie sich wieder blutig kratzt.

Manchmal wünscht sich Jana das Ende herbei. Träumt, wie sich Maxim eine Überdosis setzt, ein Ende mit goldenem Schrecken, das sie befreit. Von all den Mühen, der Bande, die Familie bedeutet: einen Menschen niemals aufgeben zu dürfen, ganz gleich, was er tut.

Trotz allem hofft Jana. „Vielleicht ist Maxim noch nicht verloren“, sagt sie.

Manchmal, wenn sie ihn im Knast besucht, blitzt plötzlich jener Mensch auf, der sie einst im Arm gehalten hat. Einmal fährt sie nach einer schlimmen Woche zu ihm: Sie hat ihre Eltern besucht und die Wodkagläser gezählt, die ihr Vater am Abend leerte. Viel zu viele.

Sie weiß, wie absurd es ist, Maxim davon zu erzählen: einem Junkie, der es selbst nicht schafft, seiner Sucht zu entkommen. Doch sie wünscht sich einen großen Bruder, der ihr zuhört, der die Last teilt. Wenigstens ein Mal. „Papa trinkt zu viel“, sagt Jana. Sie sitzen an einem quadratischen Holztisch im Besucherraum der JVA. Die Wände sind dreckig-beige, die Fenster vergittert. Tränen laufen über ihr Gesicht.

„Jana“, sagt Maxim. „Nicht weinen.“ Sanft spricht er auf sie ein. Reicht ihr Taschentücher. Bittet die Polizeibeamten hinter der Glasscheibe, ihr einen Tee zu holen, „für meine kleine Schwester“. „Vielleicht schreibe ich Papa einen Brief“, sagt Maxim. „Mach dir nicht solche Sorgen.“ Jana sieht Maxim an: seine Augen, die genauso grün sind wie ihre, seine Lippen, deren Schwung dem der ihren ähnelt. Und für einen Moment ist er wieder ihr Bruder und nur das. Sie spürt seine Liebe, wie ein unsichtbares Band, das an ihr zerrt, und doch niemals reißt.

Wer wäre Maxim geworden ohne das Heroin? Ein Geschäftsmann, glaubt Jana, mit geschliffenen Manieren und teuren Anzügen, der Frauen den Stuhl zurechtrückt und sie mit Rosen beschenkt. Wahrscheinlich hätte er ein Haus mit Garten, in dem das Spielzeug seines Sohnes herumliegt, ein Kind wie ein kleiner Prinz, von Maxim vergöttert und verzogen. Vermutlich, sagt Jana und lächelt, würde Maxim sie oft zum Essen einladen und teuren Wein bestellen, und ihr mit ernster Stimme erklären, dass kein Mann gut genug für sie sei. „Die Wahrheit ist: Ich kann ihn mir ohne Heroin nicht vorstellen“, sagt Jana. Sie weint.

Im August 2019 hat Maxim zwei Drittel seiner Haftstrafe abgesessen. Dann wird er nach Russland abgeschoben. Vielleicht, sagt Jana, wird sie ihn begleiten. „Ich bin für dich da“, hat Jana ihm vor Kurzem geschrieben. „Wenn du beweist, dass es sich lohnt, um dich zu kämpfen.“ Maxim hat nicht geantwortet.

Erschienen in DIE ZEIT

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