Fremde Freunde

Als Kinder  waren Michael und Boško  beste Freunde. Doch eines Morgens war Boško fort: Er wurde abgeschoben. Sechzehn Jahre später fliegt Michael nach Bosnien, um seinen alten Freund wiederzusehen. Eine Reise, die sein eigenes Leben infrage stellt.

Das Profilbild kam Michael vertraut vor. Unter „Personen, die du vielleicht kennst“ zeigte Facebook ihm das Foto eines jungen Mannes. Lange sah Michael das Bild an, den Kinnbart, die Stupsnase, den trotzigen Blick, und alles war wieder da: die gemeinsame Schulzeit, das abprubte Ende der Freundschaft.

Sie hatten sich in der dritten Klasse in Ludwigsburg kennengelernt. Michael, ein schmächtiger Junge mit Lockenkopf, kam neu in die Klasse. Am ersten Tag sprach ihn ein Junge an: Boško, ein blasser Schlaks, wollte seine Schokomilch gegen Michaels Bananenmilch tauschen. So wurden die beiden Freunde, bis zur sechsten Klasse. Bis zu jenem Tag im November 2000, als Boško verschwand.

Es war ein Montag, Michael betrat den Klassenraum der 6d. Wie jeden Morgen setzte er sich in die letzte Reihe und wartete auf seinen Freund. Doch Boško kam nicht. Auch am Dienstag nicht. Am Nachmittag wählte Michael die Nummer seines Freundes, bestimmt war er krank. Es klingelte, doch niemand antwortete.

Einige Tage später lag in Michaels Briefkasten ein Schreiben. Die Schulleitung teilte den Schülern mit, Boško sei abgeschoben worden, zurück nach Bosnien. Von dort war die Familie im Balkankrieg geflohen. Michaels bester Freund war fort. Ohne Ankündigung, ohne Abschied, einfach aus dem Leben gerissen.

Jedes Jahr werden Tausende Menschen abgeschoben, weil sie ohne Aufenthaltsgenehmigung im Land leben. Meist geschieht die sogenannte Rückführung nachts: Polizisten holen die Migranten ab und bringen sie in ihr Heimatland. Es gibt kaum Möglichkeiten, sich zu widersetzen. Auch für Boško und seine Familie kam die Abschiebung plötzlich. Was passiert, nachdem die Menschen in ihrer Heimat ankommen? Wie ging Boškos Leben weiter nach jenem Tag im November?

„Als ich Boško auf Facebook gefunden hatte, wollte ich wissen, wie er lebt, wer er heute ist, ob er Deutschland vermisst“, sagt Michael, der heute 28 Jahre alt ist und in Würzburg Informatik studiert. Über Nachrichten gelang es ihm nicht, all das herauszufinden. Er beschloss, den alten Freund in Bosnien zu besuchen.

Vom Flughafen Sarajevo aus muss Michael noch fünf Stunden mit dem Bus fahren. Boško lebt nicht in der Hauptstadt, sondern in einer teilautonomen Republik im Norden Bosniens. Vor dem Busfenster ziehen Plattenbauten vorbei und Minarette, dann werden die Häuser immer kleiner. Felder wechseln sich mit dunklen Nadelwäldern ab, die man nicht betreten darf, weil in der Erde immer noch Minen liegen. Michael blickt hinaus, neugierig und zugleich voller Sorge. Er ahnt, dass sein Leben besser verlaufen ist als Boškos, seit sie getrennt wurden.

In Facebook­-Nachrichten hat Boško preisgegeben, dass er Psychologie studiert hat und in einer Band rappt. Mehr nicht. Bis der Bus ankommt, hat Michael nur die Erinnerungen.

Seit sie einander in der dritten Klasse begegnet waren, verbrachten Michael und Boško jeden Tag zusammen. Sie spielten gemeinsam Nintendo und teilten eine Leidenschaft für Pokémon. Die Familien der beiden nahmen das  jeweils andere Kind auf, als wäre es ihr eigenes. Als Boškos kleiner Bruder einmal ins Krankenhaus musste, fuhr Michael einfach mit. Weil die Jungs zu laut durch die Flure tobten, wies eine Krankenschwester sie zurecht. Boško erklärte, seine Familie warte auf einen Arzt. „Und was macht der andere Junge hier?“, fragte die Schwester und zeigte auf Michael. „Das ist mein zweiter Bruder“, sagte Boško.

Was sie verband, war nicht nur die Liebe zu Comics und Computerspielen, sondern auch die ähnliche Familiengeschichte: Michael stammte aus Russland, Boško aus Bosnien. Beide waren Anfang der 90er Jahre als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. Boškos Familie war vor dem Krieg in Jugoslawien geflohen, Michaels jüdische Familie vor der Diskriminierung in Russland. Boško und Michael waren Migranten in einer Klasse voller Mittelschichtskinder. Sogar optisch unterschieden sie sich von den anderen: Michael trug manchmal tagelang denselben Pullover, Boško war so bleich, als litte er an Mangelernährung.

Doch während Michaels Familie eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung bekam, blieb Boškos Familie nur befristet geduldet. Dass Boško abgeschoben wurde, war auch ein Einschnitt in Michaels Leben. Er verlor nicht nur einen Klassenkameraden, sondern einen Verbündeten. Und dann erzählte die Lehrerin auch noch, die Polizei hätte Boško und dessen Familie in Handschellen zum Flughafen gebracht. Die Vorstellung, dass man seinen Freund wie einen Kriminellen behandelt hatte,  machte Michael zornig. Er war damals viel alleine. Sobald die Schule endete, fuhr er nach Hause und vergrub sich in einer Welt aus Computerspielen und Manga­-Comics.

Langsam senkt sich die Dämmerung über den bosnischen Norden. Bis zu Boškos Heimatstadt Brčko kann es nicht mehr weit sein. In jedem Ort, den der Bus durchquert, sucht Michaels Blick nervös nach Hin weisschildern: „Ist es das? Sind wir da?“ Er freut sich auf Boško, aber fürchtet sich auch. Was, wenn er nicht mehr derselbe ist? Wenn sie einander fremd geworden sind?

Als der Bus den Bahnhof erreicht, erkennt Michael seinen Freund sofort. Boško sitzt auf einer Bank. Er hat die Hände in den Taschen und wippt mit einem Bein. Als Kind wirkte er dünn und fahl. Jetzt ist er ein kräftiger Mann. Der dichte, dunkle Bart lässt sein Gesicht breit erscheinen. Mit der weiten Jacke und der tief hängenden Jeans sieht Boško wie ein deutscher Großstadt­-Skater aus, der sich in die bosnische Provinz verirrt hat.

Als er Michael sieht, springt Boško auf. Sie umarmen sich, klopfen einander auf die Schultern. „Du hast ja schon graue Haare“, sagt Boško. Er fährt Michael über den Kopf. „Aber ich auch.“

Wie holt man sechzehn Jahre Leben nach? Setzte man Boško und Michael als Kinder zusammen in einen Raum, dauerte es nur Minuten, bis sie rauften und sich kaputtlachten. Nun sind sie erwachsen – und verlegen. „Wie war die Reise?“, fragt Boško. „Wie hat dir Sarajevo gefallen?“ Dann stehen sie nebeneinander, die Hände in den Taschen wie zwei Fremde, denen der Small Talk ausgegangen ist.

Michael hat sich in ein Hotel eingebucht. Er will Boško nicht zur Last fallen. Nachdem Michael seine Sachen abgelegt hat, gehen beide gemeinsam durch die Straßen von Brčko. Die Geschäfte und Cafés in der Fußgängerzone strahlen gelb, doch sie sind fast leer. Schilder erinnern daran, dass der Ort mit amerikanischen Hilfsgeldern notdürftig wiederaufgebaut wurde. „Schön hier“, sagt Michael. „Ach Quatsch“, sagt Boško spöttisch. Er hetzt durch die Straßen, macht nirgendwo Halt, erklärt nichts. Als wäre ihm der Ort unangenehm, als wollte er eigentlich nicht, dass Michael ihn sieht.

Boško und Michael setzen sich schließlich an die Brka, den Fluss, der Brčko durchquert. Lange sprechen sie über Politik und die Geschichte des Krieges. Erst nach und nach werden die Themen persönlicher, schließlich erzählt Boško von der Nacht der Abschiebung.

Als die Polizisten klingelten, um die Familie abzuholen, quälte ihn vor allem eine Sorge, erinnert sich Boško: Er hatte drei Comics aus der Stadtbücherei ausgeliehen – nun würde er sie nicht zurückbringen können. Deshalb habe er einen Zettel daraufgeklebt und die Polizisten gebeten, die Bücher für ihn zurückzugeben. „Wie ein guter Schwabe“, sagt er. Sein Deutsch ist noch immer flüssig. Das liegt vor allem am Satellitenfernsehen: Boško vergöttert Joko und Klaas und verpasst keine Folge von „Galieo“. Auf seinem Computer hat er deutsche HipHop­Tracks gespeichert. Er hört sie oft und träumt sich dabei in Sidos Block. Als Michael Boško fragt, was an ihm noch deutsch sei, überlegt er kurz und sagt dann: „Alles.“

Boško hatte Bosnien als Kleinkind verlassen, seine Heimat war ihm bei der Rückkehr völlig fremd. Für die muslimischen Bosniaken war er, der Serbe, ein Völkermörder. Die Serben dagegen nannten Boško einen Spion. In Deutschland hatten seine Eltern versucht, ihn von Politik und Nationalismus abzuschirmen. Nun flogen sie ihm als Spucke der Nachbarskinder ins Gesicht.

Während Boško erzählt, sitzt Michael ganz still. Hat den Kopf gesenkt. Zum ersten Mal hört er, was passierte, nachdem Boško das Land verlassen musste. Wie Boško mit seinem neuen Leben rang, während er selbst sein altes einfach weiterlebte. Nur selten unterbricht er Boško mit Fragen. „Und heute? Wie geht es dir?“

Obwohl Boško Kinderpsychologie studiert hat, arbeitet er nicht in seinem Beruf. Dutzende Bewerbungen blieben erfolglos. Um in Bosnien eine Stelle zu bekommen, müsse man jemanden bestechen oder Freunde in der Politik haben. „Geld oder Beziehungen“, sagt Boško. „Ich habe nichts von beidem.“ Deshalb arbeitet er im Callcenter und nimmt auf Deutsch Anrufe entgegen.

In seiner Freizeit hat er vor Kurzem eine Komödie gedreht. Eigentlich möchte er sogar noch Regie studieren, erzählt er. Dieser Wunsch macht ihn in Brčko zum Sonderling. Seine Freunde verstehen nicht, warum er seine Zeit in etwas so Brotloses steckt. Boško wuchs auf mit dem Versprechen der westlichen Welt, alles werden zu können, was er will. Durch die Abschiebung wurde das Versprechen gebrochen.

Boško träumt davon, nach Deutschland zurückzukehren. Nach der Abschiebung sei er traurig gewesen, aber niemals wütend auf das Land. „Erst als ich im vergangenen Jahr die Berichte über die vielen Flüchtlinge gesehen habe, bin ich manchmal doch wütend geworden“, sagt er. „Deutschland nimmt so viele Migranten auf. Aber mich schickt man zurück.“

Wieder im Hotel, legt Michael sich auf seine Bettdecke und starrt die Wand an. „Ich habe nicht gewusst, dass es hier so schwierig für ihn ist“, sagt er schließlich. Hilflos fühle er sich, wie damals als Zwölfjähriger. „Eine Million Menschen hat Deutschland im letzten Jahr aufgenommen“, sagt Michael trotzig.„Und mein Freund verrottet hier.“ Boško spreche Deutsch, er war auf dem Gymnasium. „Warum durfte er nicht bleiben?“

In der Theorie mag das Prinzip des deutschen Asylrechts sinnvoll erscheinen: Wer aus dem Krieg flüchtet, bekommt Schutz. Ist die Gefahr vorüber, kehren die Menschen zurück. Aus Boškos und Michaels Sicht jedoch wirkt die Regelung absurd: Jemand, der perfekt integriert ist, wird in die Fremde geschickt.

Früher waren Boško und Michael Kinder, deren größte Sorge es war, wie sie den Gegner im Nintendo­ Spiel besiegen konnten. Nun trennen sie nicht nur sechzehn Jahre – sondern ein halber Kontinent, ein Asylgesetz und ein Wohlstandsgefälle.

Michael schläft unruhig in dieser Nacht. Ihn treiben Fragen um: Ist es gerecht, dass Boško zurückmusste? Dass er selbst inzwischen einen deutschen Pass hat, obwohl seine Familie damals vor einer viel geringeren Gefahr floh?

Am nächsten Morgen holt Boško Michael vor dem Hotel ab. Mit dem Auto fahren sie zum Haus der Eltern, wo Boško ein Zimmer bewohnt. Bei ihrer Rückkehr hatte die Familie nur noch das Fundament vorgefunden – der Rest des Hauses war im Krieg zerstört worden. Als Michael die Türschwelle übertritt, läuft ihm Boškos Mutter Stoja entgegen. Mit ihrem müden, weichen Blick sieht sie ihn an. „Michael“, sagt sie sanft und lächelt. Sie drückt ihn an sich, streicht ihm über das Haar. „Mein Kleiner“, wiederholt sie immer wieder. „Meine Jungs. Endlich zusammen.“

So hatte Boškos Mutter Michael früher immer gerufen: Mein Kleiner. Ihre Stimme ist dieselbe, nur der Ton hat sich verändert. Ihre Worte klingen jetzt brüchig. Michael sitzt mit der Familie im Garten. Boškos Vater Dragan hat keine Zähne mehr, scheint um Jahrzehnte gealtert. Seit der Rückkehr arbeitet er in einer Fabrik, Stoja ist Näherin, das Geld reicht nur knapp. Im Hintergrund singen Vögel. Die Zwetschgen, aus denen der Vater Sliwowitz braut, sind noch grün. „Bei euch in Deutschland sieht es fast genauso aus wie hier, nicht wahr“, sagt der Vater. „Nur ohne Krieg.“

Michael ist niemand, der Gefühle offen zeigt. Nur wer ihn gut kennt, registriert die Veränderung. Er wird ganz still, hat die Arme vor der Brust verschränkt, wirkt abwesend. Dabei kämpft er mit der Traurigkeit. Sein Besuch komme ihm auf einmal dumm vor, erzählt er später im Hotel. „Warum bin ich überhaupt hierhergekommen? Diese Menschen haben zweimal ihre Heimat verloren. Und ich sitze in ihrem Garten und verkörpere all das, was sie nicht mehr haben.“ Am liebsten wolle er sich bei den Eltern entschuldigen. Weil er in Deutschland bleiben durfte und sie nicht.

Boškos Zimmer liegt unter dem Dach und ist kleiner als Michaels WG-­Zimmer in Würzburg. Ein Klappsofa, ein Schreibtisch, ein Fernseher. Auf dem Boden hat Boško alte Fotos ausgebreitet. Michael im immer gleichen grünen Samtpullover, Boško mit dem hellen Mondgesicht. „Alter, sahen wir bescheuert aus“, sagt Boško. „Ja“, sagt Michael. Dann schweigen sie. Die Erinnerungen sind allmählich aufgebraucht.

Die Gegenwart vermeiden sie. Manchmal setzt Michael an und erzählt von seiner Bachelorarbeit oder von den Semesterferien, die er in Asien verbracht hat. Doch Boško hakt nicht nach. „Es ist eben hart für mich“, sagt er in einem leisen Moment. „Meine deutschen Freunde fahren um die Welt, tun einfach, was ihnen Spaß macht. Ich habe diese Möglichkeiten nicht.“

Früher waren Michael und Boško Freunde. Was sind sie jetzt? Sie haben sich beide auf den Besuch gefreut, nun schämen sie sich voreinander. Boško, so scheint es, für sein neues Leben, das ihm ärmlich vorkommt. Michael für das Gefühl, Boško aufzuzeigen, was er niemals haben wird.

Im Hotel beginnt Michael auf seinem Handy zu googeln. Wäre Sozialarbeit eine Möglichkeit für den Kinderpsychologen Boško, zurückzukommen? „Ich kann mich nicht dafür geißeln, dass es mir besser geht“, sagt Michael. „Aber ich kann versuchen, Boško zu unterstützen.“

Zum Abschied umarmen sie sich lange. „Mach’s gut“, sagt Boško. „Das nächste Mal sehen wir uns in Deutschland“, sagt Michael. Er will Boško helfen, nach Hause zu kommen.

***

Nach seiner Rückkehr traf sich Michael mit einem Mitarbeiter der Zentralen Auslands­ und Fachvermittlung der  Arbeitsagentur. Boško und Michael arbeiten nun gemeinsam daran, Boškos Abschluss als Kinderpsychologe in Deutschland anerkennen zu lassen. Boškos größter Traum wäre es aber, ein Regiestudium in Deutschland zu beginnen. Am liebsten in jener Stadt, aus der er abgeschoben wurde: In Ludwigsburg sitzt eine der besten  Filmakademien.

Erschienen in Neon

Bild: Julian Baumann

Kategorien:NEON, Reportagen

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