Tätowiertes Mahnmal

Ayal Gelles hat sich die KZ-Nummer seines Großvaters in den Unterarm tätowieren lassen. Für den Auschwitz-Überlebenden bedeutet sie etwas ganz anderes als für den Enkel.

Man sieht die Nummer, wenn Ayal Gelles Bus fährt. Wenn er sich an einer Schlaufe festhalten muss. Seine Ärmel rutschen dann bis zum Ellbogen herunter und legen mit dem Unterarm sieben schwarze Zeichen frei. A-15510. Eine Nummer aus dem Konzentrationslager Auschwitz.

Gelles spürt, dass die anderen Fahrgäste im Bus nicht glauben, was sie sehen. Dieser Mann kann nicht im KZ gewesen sein, das ist unmöglich. Denn Ayal Gelles ist 29 Jahre alt. Das Tattoo ist die Auschwitz-Nummer seines Großvaters, Avraham Nachshon. Ein Überlebender der dritten Generation ließ sich das Opfermal der ersten tätowieren.

Ayal Gelles ist nicht der Einzige, der seinen Großeltern auf diese Weise nah sein will. Etwa zehn andere Israelis, alle zwischen 20 und 40 Jahre alt, haben sich seit 2008 eine Auschwitz-Nummer tätowieren lassen. Ein junger Kunststudent, der an seine Oma erinnern will. Zwei Brüder, die hoffen, ihr toter Großvater wäre stolz auf sie. In Jerusalem trägt eine ganze Familie – vier Mitglieder – eine KZ-Nummer auf dem Unterarm.

Der Holocaust ist Teil der Geschichte von Avraham Nachshon und der seines Enkels – und die Schoah ist in Israel omnipräsent. Noch heute prägt die Endzeit-Angst, die Furcht vor einem zweiten Holocaust, den politischen Diskurs. Aber wie weit darf Erinnerung angesichts der „neuen Nummer“ gehen? Wann wird aus Gedenken Groteske?

Ein verregneter Samstagnachmittag in Tel Aviv. Ayal Gelles sitzt in einem Café, auf dem Kopf eine Wollmütze, viel zu groß für sein schmales Gesicht. Er grinst jungenhaft. Auf dem Tisch hat er seinen Laptop aufgeklappt. Gelles arbeitet als Softwareentwickler. Die israelische High-Tech-Industrie ist für junge Kreative einer der größten Arbeitgeber. Er hat seinen Militärdienst abgeleistet, drei Jahre lang, danach ging er auf Weltreise. Lange Reisen holen verschüttete Gedanken hervor und gebären neue. Irgendwann in diesem Fluss beschloss Gelles, sich das Tattoo seines Großvaters stechen zu lassen. „Ich wusste nicht, ob es richtig oder falsch ist“, sagt Gelles. „Aber mir war klar, dass ich es tun werde.“

Gelles‘ Großvater wurde 1925 in Triest, Italien geboren. In den 1930er Jahren floh die Familie vor den Nazis nach Korfu. Von dort wurden sie 1942 deportiert. Avraham Nachshon und sein Bruder überlebten Auschwitz, weil sie kräftig waren und arbeiten konnten. Und weil sie einander hatten. Mal teilten sie ein schimmeliges Stück Brot. Mal erweichte der eine das Herz eines Aufsehers, was den anderen vor dem Gang in die Gaskammer rettete. Die Mutter war dort am ersten Tag umgekommen. Von seiner Schwester Rosa durfte er sich mit einer letzten Umarmung verabschieden. Sie wurde nach Bergen-Belsen gebracht. Danach verlor sich ihre Spur.

Die Geschichten aus Auschwitz gehören zur Kindheit der Enkel

Ayal, der Enkel, hat diese Geschichten gehört, seit er ein Kind war. Er verbrachte viel Zeit mit seinem Opa: Sie spielten im Park und gingen fischen. Und immer wieder sprach sein Großvater von Hunger oder Tod. „Er konnte nicht anders, er war ein Gejagter“, sagt Gelles. Gleichzeitig schien er seinen Enkel schützen zu wollen vor der eigenen Erinnerung. Oft mischte er Trauriges mit Ironie, wenn er von Auschwitz sprach. „Manchmal hat er sogar Witze gemacht“, sagt Gelles. Er bewundert die Fröhlichkeit seines Opas, seinen Optimismus. Trotz der eigenen düsteren Geschichte hat er ihm eine glückliche Kindheit beschert. „Er ist der wunderbarste Großvater, den man sich wünschen kann.“

Acht Monate nachdem Ayal Gelles zum ersten Mal über das Tattoo nachgedacht hatte, machte er Station in New York. Er streifte mit einem Freund durch die Stadt, in einem Café aßen sie Hummus. Es war ein kalter Februartag. Im East Village kamen sie an einem Tattoo-Shop vorbei. Gelles ging hinein. Mehr als 60 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz wurde wieder eine Nummer gestochen.

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Das KZ ist wie der Hintergrund eines Bildes, das Gelles von seinem Großvater hat. Eine Grundierung, überlagert von Kindheitserinnerungen. Die Nummer – sie erinnert ihn nun an beides. An den Schrecken der Welt. Und an den Menschen, der ihn erlebt hat.

Der Großvater lebt in einem kleinen Appartement im Norden von Tel Aviv. Ayal Gelles besucht ihn jede Woche. Im Wohnzimmer: Ein Sessel, Stühle, auf dem Tisch eine Flasche Wein und Gläser, für den Besuch. An den Wänden Fotografien, einige bunt und neu, viele schwarz-weiß. Ein Jahrhundert, verstaut in einem Raum. Die Uhr auf dem Fernseher ist stehengeblieben. Ayal nennt seinen Großvater „Bambi“. Auf dem Schrank lugt die Plüschfigur eines Rehkitzes hervor; der Enkel hat sie ihm geschenkt. Ayal bedeutet auf Hebräisch „Hirsch“.

Hat die Nummer wirklich Erinnerung verdient?

Avraham Nachshon trägt Baskenmütze und Hemd. Seine Hände zittern, die Stimme ebenfalls, aber er möchte sprechen und sitzt kaum still. Immer wieder steht er aus dem Sessel auf und geht um den Tisch herum, klappt Fotoalben auf und deutet auf ein Bild. „Mutter“, sagt er. Der 87-Jährige spricht ein paar Worte Deutsch: Vater, Mutter, Bruder, Selektion. Aber er ist kein trauriger Mann, er lächelt während er spricht, weist den Enkel an, Wein nachzuschenken. Manchmal zieht Nachshon seine Ärmel hoch. Dann schimmert seine Haut, an derselben Stelle, wo Ayal seine Nummer trägt. Ein blasses Grün, auf faltigen Sommersprossen.

„Wenn Ayal mich gefragt hätte, ob er das Tattoo übernehmen darf… Ich hätte Nein gesagt.“ Avraham Nachshon hat lange nicht verstanden, warum der Enkel das getan hat. Diese Nummer – stand sie nicht für etwas, das keine Erinnerung verdient hatte?

Nach dem Krieg wusste Avraham Nachshon nicht, wohin. Also ging er nach Palästina, wie viele Überlebende. In den 1940er Jahren waren die Juden dort mit dem Aufbau ihres Landes beschäftigt. Eine Nation pflanzte und werkelte, führte Krieg und gewann ihn. Man fühlte sich stark und konnte nicht glauben, dass sich am anderen Ende Europas Juden hatten widerstandslos vergasen lassen. Es passte nicht zur aktuellen Aufbruchsstimmung.

Wer aus dem Holocaust kam, fügte sich ein, fand Arbeit und gründete eine Familie. Man sah den Überlebenden die Traumata an, aber hören wollte sie niemand. Also sprach Avraham Nachshon mit niemandem über die Nummer. Es war nicht so, dass er sie versteckte – aber herzeigen wollte er sie auch nicht. „Wer eine Nummer hatte, den sahen die Leute an, als sei er verrückt“, sagt Nachshon. Viele Israelis wechselten die Straßenseite, wenn ein Holocaust-Überlebender auf sie zukam. Weil die manchmal grundlos lachten, weil ihre Augen so leer waren. Man gab ihnen den hebräischen Namen „avak enoschi“. Menschlicher Staub.

Erst mit dem Eichmann-Prozess begann das Land seine eigene Geschichte zu erkennen. Als der NS-Verbrecher 1961 in Jerusalem angeklagt wurde, sagten die Überlebenden öffentlich aus. Der Holocaust war nicht mehr zu verdrängen. Aus dem Makel wurde ein Vermächtnis. Und aus der Nummer, einst ein Symbol des Todes, wurde ein Zeichen des Überlebens. Eines moralischen Sieges. Avraham Nachshon konnte sie dennoch nicht mehr mit Stolz tragen – dafür waren seine Erinnerungen zu stark. Den späten Ruhm bekommt erst sein Enkel zu spüren.

Im Sommer wird Ayal Gelles heute oft auf das Tattoo angesprochen: Ist es das, wofür wir es halten? Besonders junge Israelis können sich für die Idee begeistern: Für die dritte Generation hat die Nummer ihren Schrecken verloren. Aber Gelles weiß, dass man sich nicht umsonst vor ihr gefürchtet hat.

Er selbst hatte seinen Großvater stets als liebenswerten Menschen erlebt. Erst später wurde ihm klar, dass eine Generation zwischen ihnen lag, die die Folgen des Holocaust abgefedert hatte. „Meine Mutter musste zum Beispiel immer ihren Teller aufessen“, erzählt Gelles. „Nie durfte sie etwas übrig lassen. Und jeder Topf wurde bis zum Ende ausgekratzt.“ Andere Überlebende der dritten Generation erinnern sich, dass ihre Großeltern den eigenen Kindern kein Lächeln schenken konnten. Den Enkeln dagegen schon. Die Jahrzehnte, die zwischen ihnen lagen, hatten die Wunden nicht heilen, aber vernarben lassen. Oft bekamen sie die Liebe, die ihren Eltern verwehrt geblieben war.

Die neuen Nummern sollen deshalb nicht mahnen, nicht glorifizieren. Obwohl die Nummern für den Holocaust stehen, geht es um mehr als das. Jedes Auschwitz-Tattoo, das in den vergangenen Jahren gestochen wurde, hat auch eine persönliche Bedeutung. Dem einen gibt es in schwierigen Zeiten Kraft. Den anderen erinnert es an glückliche Kindertage. Für Ayal Gelles, der vegan lebt, ist das Tattoo auch ein Symbol für Tierrechte. „Wir verachten, was die Nazis getan haben – aber wir tun dasselbe noch immer mit Tieren“, sagt er.

So froh Ayal ist, sie in der Öffentlichkeit unbehelligt zeigen zu können, so sehr wehrt er sich gegen eine politische Instrumentalisierung. Avraham Nachshon hat seine Sicht mittlerweile geändert. „Ich bin froh, dass er es gemacht hat“, sagt er, und nimmt einen Schluck Wein. „Er hat es getan, weil er mich liebt. Und auch damit die Menschen ihn danach fragen.“ Dann könne er antworten: Das ist die Nummer meines Großvaters. Und die Welt, das hofft Nachshon, werde den Holocaust nicht vergessen.

„Meistens antworte ich auch genau das“, sagt Ayal. Aber dafür sei das Tattoo nicht da. Wofür dann? Gelles lächelt. „Manchmal schaue ich auf meinen Arm. Und erinnere mich daran, dass ich meinen Großvater mal wieder anrufen muss.“

Erschienen bei ZEIT Online

Fotos: Rico Grimm.