Von Frau zu Frau

Sie versprechen Jobs und eine bessere Zukunft: Ein beachtlicher Teil der Menschenhändler in aller Welt sind Frauen. Oft tun sie anderen an, was ihnen selbst widerfahren ist.

„Ich weiß, wie du dich fühlst“, sagt die Frau am Ende der Leitung auf Russisch. „Einfach so in ein anderes Land zu fahren – das kann einem Angst machen.“ Sie spricht schnell und melodisch, duzt mich: Hör zu, sagt sie, du musst das so sehen.

Sie nennt sich Natascha. In einem russischen Online-Forum bietet sie Jobs in aller Welt an: in Hongkong, der Türkei, in Israel. Bis zu 15.000 Dollar Verdienst für zwei Wochen. Dass ich als Go-go-Girl arbeiten soll, aber nicht tanzen kann – Natascha stört das nicht. Das Ticket nach Zypern will sie mir auslegen. Und am Flughafen? „Sag, dass du Touristin bist. Dann bekommst du keine Probleme.“ In einer Woche könne ich losfliegen. Natascha verspricht, mich abzuholen, sich um mich zu kümmern. „Es ist wichtig, dass jemand da ist, wenn du mal traurig bist oder Heimweh hast“, sagt sie. „Wenn du eine Freundin brauchst.“

Sanftmut als Geschäftsmodell

Natascha ist wahrscheinlich eine Menschenhändlerin. Diese Frau sucht wohl kein Go-go-Girl, sondern eine Prostituierte. In Zypern würde sie mir vermutlich den Pass abnehmen, vielleicht plant sie, mich einzusperren. Oder sie übergibt mich nur: einem Zuhälter oder Bordellbesitzer, der an meinem Körper verdienen will. Nataschas weiche Stimme, ihre Offenheit, ihr Lachen sind nur ein Köder.

Eine russische Expertin hat sich Nataschas Profil angesehen und ihre Jobbeschreibungen studiert. Sie bestätigt die Einschätzung. Doch Natascha klingt so vertraut, dass ich ihr glauben möchte. Ihre Sanftmut ist ihr Geschäftsmodell.

Fällt das Wort „Menschenhändler“, zeichnet das geistige Auge ein Bild. Man sieht einen hochgewachsenen Mann vor sich: breite Schultern, vielleicht etwas Gel in den Haaren, billige Lederschuhe. Diese Vorstellung ist ein Trugbild. In vielen Fällen sind es nicht Männer, sondern Frauen, die andere Frauen anwerben, verkaufen, versklaven.

Das Büro der Vereinten Nationen für Drogen und Verbrechensbekämpfung (UNODC) verglich im Jahr 2014 Statistiken zu Menschenhandel aus 128 Nationen. Das Ergebnis: Im globalen Maßstab gesehen, sind fast ein Drittel der verurteilten Menschenhändler weiblich, bei den Verdächtigen sind es sogar fast 40 Prozent. In Osteuropa und Zentralasien stellen Frauen beinahe 60 Prozent der Verurteilten. In Nigeria sind Schätzungen zufolge nahezu alle Menschenhändler weiblich. Doch das wusste Faith nicht.

Faith trägt ein buntes Kleid und hat die Haare ordentlich gelegt, aber sie lächelt nie und spricht so schnell, als wolle sie ihre Vergangenheit wegreden. Ein Fraueninformationszentrum in Frankfurt hat das Treffen arrangiert. Faiths kleiner Sohn stapelt Bauklötze, während seine Mutter alte Geister ruft.

Faith hat nie einen Beruf gelernt, dafür hat sie acht Brüder und Schwestern. Das Geld reichte noch für die Mittelstufe, ihr Lieblingsfach war Religion. Danach ging Faith ihrer Mutter zur Hand. Gemeinsam führten sie einen kleinen Stand auf dem Markt nahe Benin City, einer Millionenstadt in Nigeria. Schlammige Straßen, Fleisch, das in der Sonne trocknet, gebrauchte Kleidung aus dem reichen Europa. Dazwischen bot Faith Brot feil. Nachts teilte sich die ganze Familie ein Zimmer.

„Sie wird gut zu dir sein“

Einmal bekam Faith (die in Wahrheit anders heißt) bei der Arbeit Besuch. Eine Freundin der Familie kam an ihren Stand. Sie war vor Jahren nach Europa ausgewandert, war wohlhabend und geschätzt. Sie grüßte Faith, eine Weile plauderten sie. Die Frau sah zu, wie Faith die Laibe den Kunden reichte, das Geld in der Hand zählte. „Du bist geschickt“, sagte die Frau. „Leute wie dich kann ich gebrauchen.“

Es war, als wäre Faith ausgezeichnet worden. Von allen in der Familie sollte sie nach Europa gehen. Wie fürsorglich die Tante gewesen war und wie freundlich! Faith packte ihre Kleider ein, ein wenig Medizin, Fotos ihrer Familie. „Meine Tochter, du musst das tun“, sagte ihre Mutter zum Abschied. „Die Nachbarin wird helfen, sie wird gut zu dir sein.“

Es war Winter, als Faith in Deutschland landete. Schnee hatte sie noch nie gesehen. Ein Fahrer brachte der Frau warme Kleidung, dann fuhren sie über die dunkle Autobahn. Es war Weihnachten, und Faith – christlich erzogen – vermisste ihre Familie.

Die Bekannte ließ Faith in ihr Haus in Frankfurt bringen und eröffnete ihr, dass sie als Prostituierte in einem Bordell arbeiten würde. Fünfzig Euro sollte Faith für eine halbe Stunde nehmen. Als Faith sich weigerte, schrie und tobte ihre Bekannte. Sie drohte, Faiths Familie in Nigeria Gewalt anzutun. Sollte Faith sich widersetzen? Sich verstecken? Wegrennen? Wohin?

Faith, fremd in Deutschland, fügte sich schließlich. Von neun Uhr morgens bis zwei Uhr nachts bediente Faith Männer. Danach schloss sie die Tür ab und weinte sich in den Schlaf. Einmal wöchentlich kam die Tante, um Faiths Lohn abzuholen. Sie fragte: „Wie geht es dir?“, und als Faith nicht antwortete, ging sie wortlos wieder. „Aus meiner Freundin war ein Monster geworden“, sagt Faith.

Kaltblütigkeit hat Methode

Diese Kaltblütigkeit hat Methode in aller Welt. In Hamburg wurde Anfang des Jahrtausends eine damals 29 Jahre alte Frau verurteilt, die Frauen aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland schleuste und zur Prostitution zwang. In Rumänien warb eine Frau junge Mädchen in einem Waisenhaus an, brachte sie in die Niederlande und ließ sie dort für sich und ihren Bruder arbeiten. Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen berichten von Thailänderinnen und Bulgarinnen, die ihren eigenen Schwestern oder Cousinen Arbeit in Europa versprachen – und sie Zuhältern auslieferten.

Dass Frauen Verbrechen begehen, ist an sich nichts Erstaunliches. Doch ihr Anteil an schweren Straftaten ist ungleich niedriger als der von Männern. Mord, Totschlag, Raub – all das sind Männerdomänen. Bis zu 90 Prozent der Täter sind männlich. Geht es jedoch um Menschenhandel, steigt der Anteil der Frauen in vielen Ländern drastisch an. In Armenien werden – so ein UN-Report aus dem Jahr 2012 – beispielsweise acht Mal mehr Frauen für Menschenhandel verurteilt als für andere Delikte.

Eine wissenschaftliche Erklärung gibt es bislang nicht. Dazu ist das Feld zu wenig erforscht. Doch Experten vermuten, dass viele der Täterinnen ehemalige Opfer sind. Bemerkenswert ist das Zitat einer Nigerianerin, die mit einer Schweizer NGO über ihre Erfahrungen sprach. Sie wurde „wie ein Hund an Ketten gehalten“, sagte die Frau. „Aber wenn man uns loslässt …, sind wir gefährlich und brutal. Wir haben die Hölle überlebt. Wir sind furchtlos.“ Dafür ist Cristina der beste Beweis.

Zum Interview erscheint Cristina, wie sie genannt werden will, in einem Paillettenshirt. Die Farbe ihres Nagellacks passt zu ihrem BH, dessen Träger hervorblitzen, wenn sie den Kopf zur Seite neigt. Auf High Heels durchquert sie den kahlen Raum, das Kinn erhoben, den Rücken durchgedrückt. Sie nimmt neben einer Wärterin Platz. Cristina sitzt in einem rumänischen Gefängnis ein; wegen Menschenhandels wurde sie zu zehn Jahren verurteilt.

Ein Leben wie aus einem Scorsese Film

„Ich bin in die größte Falle meines Lebens getappt“, sagt Cristina: „Money.“ Es ist eines der wenigen Wörter, die sie auf Englisch kennt. Früher hatte sie kein Geld, erzählt Cristina, und als dann money da war, gewöhnte sie sich schnell daran. Sie wurde gierig. „Ich habe versucht zu entkommen“, sagt sie und schweigt einen theatralischen Moment. „Aber es war zu spät.“

Es ist nicht einfach zu unterscheiden, welcher Teil von Cristinas Erzählung der Wahrheit entspricht und welcher ihrer Phantasie. Sie sagt, sie habe in Villen gelebt und die schnellsten Autos besessen. Sie führte ein Leben wie aus einem Scorcese-Film, und ihre Mädchen brachten ihr 20.000 Dollar pro Nacht. Hunderte, behauptet Cristina, hätten überall in Europa für sie angeschafft.

Unzweifelhaft ist, dass Cristina Dutzende junger Rumäninnen nach Griechenland und Italien lockte und sie dort für sich arbeiten ließ. Cristina gab sich als Restaurantbesitzerin aus und bot ihnen Jobs als Barkeeperin oder Putzfrau. Wurden die Opfer misstrauisch, traf sich die Zuhälterin mit ihren Eltern. Am gedeckten Küchentisch versicherte sie Müttern und Vätern, dass sie nur das Beste für ihre Töchter wolle. Dass sie selbst Kinder habe. Die Eltern gaben ihr Einverständnis, und Cristina kaufte die Tickets. Kaum vorstellbar, dass ein Mann denselben Eindruck hinterlassen hätte.

Am Zielort angekommen, eröffnete Cristina den Mädchen, wofür sie tatsächlich nach Westeuropa gekommen waren. Sie alle schuldeten ihr Geld für die Reise und sahen keinen anderen Weg, als zu gehorchen. Als Cristina 2011 festgenommen wurde, konfiszierten die Behörden mehr als 700.000 Euro. Einer jungen Frau hatte sie in einem halben Jahr als Prostituierte nur 2000 Euro bezahlt. Den Rest des Lohns – 80.000 Euro – behielt Cristina für sich.

Spricht man sie auf ihren Prozess an, wird Cristinas Stimme dunkel und voll, beinahe spuckt sie die Worte aus. Alle Mädchen hätten gewusst, dass sie als Prostituierte arbeiten würden, sagt Cristina. Sie habe niemanden gezwungen. Cristina kneift die Augen zusammen, lehnt sich an den Holzstuhl.

Doch während des Gesprächs wandelt sie sich. Erzählt von ihrer Tochter, die sie als Teenager gebar und in Rumänien zurückließ und die nun von ihrer Mutter in der Zeitung lesen muss. „Ich vermisse sie so sehr“, sagt Cristina leise, neigt den Kopf und lächelt traurig. „Es tut mir leid, ihr wehgetan zu haben.“

Emotionalität mit blindem Fleck

Auch männliche Täter täuschen ihre Opfer, auch sie gaukeln ihnen Anteilnahme vor. Doch viele Täterinnen wissen genau, welchen Qualen sie die Frauen aussetzen. Viele Menschenhändlerinnen sind selbst einmal auf dem gleichen Weg ins Ausland gekommen. Auch sie wurden einst missbraucht, gepeinigt, erniedrigt. Cristina ist in Armut aufgewachsen, auch sie hat den Akten zufolge für einen Mann im Ausland angeschafft. Erinnert sie sich nicht an die eigene Not?

Nein, sagt Michaela Huber. Sie ist Psychotherapeutin und spezialisiert auf die Behandlung von Traumata. Das Durchlebte habe die Frauen verändert, sagt Huber: Das körperliche und psychische Leid, das die Frauen erlebten, löse eine Notreaktion im Gehirn aus. „Die Persönlichkeit spaltet sich“, sagt Huber. Es helfe den Frauen erst zu überleben – und sich später aus der Prostitution zu lösen. Wenn sie sich eigene Opfer suchen, steht kein Gefühl dabei im Weg. Was nicht heißt, dass es Täterinnen an Empfindsamkeit mangle. Ihre Emotionalität hat nur einen blinden Fleck.

So werden ehemalige Zwangsprostituierte zu Zuhälterinnen, gründen eigene Dependancen und geben das Grauen weiter. Auch in Deutschland steigt die Zahl der Täterinnen. 1998 waren nur etwa 15 Prozent der wegen „Menschenhandels zum Zweck der sexuellen Ausbeutung“ Verurteilten Frauen. 2013 war schon etwa jeder vierte Täter weiblich.

Leonie von Braun beschäftigt sich als sogenannte „Schwerpunktstaatsanwältin“ ausschließlich mit Menschenhandel. Zehn Verfahren hat von Braun in den vergangenen drei Jahren geführt. Bei jedem Prozess saß auch eine Frau auf der Anklagebank. „Das schwarz-weiße Bild – gewalttätiger Mann, schwache, ausgebeutete Frau – gibt es nicht“, sagt von Braun.

Männliche Menschenhändler suggerieren ihren Opfern Liebe und müssen ihnen die Welt versprechen, um sie aus dem Land zu schleusen. Frauen dagegen unterstellt man oft hehre Motive: „Vor allem in konservativen Gesellschaften bringen Frauen anderen Frauen mehr Vertrauen entgegen“, sagt von Braun. Vielen Menschenhändlerinnen gelinge es außerdem, ihren Anteil am Verbrechen zu verschleiern: Weil sie weniger Gewalt anwenden, ist ihnen der Zwang schwerer nachzuweisen.

Als Faiths Peinigerin vor Gericht stand, schluchzte sie bitterlich. „Ich konnte es nicht fassen“, erinnert sich Faith. „Plötzlich sah sie wieder aus wie die Frau, die ich aus Nigeria kannte.“ Nach sechs Monaten hatte Faith es mit der Hilfe eines Freiers geschafft, aus dem Bordell zu fliehen. Ihre Zuhälterin wurde gefasst und verurteilt – auch weil Faith gegen sie aussagte. Weil die Frau noch Beziehungen nach Nigeria unterhielt, bekam Faith Asyl: In ihrer Heimat, so urteilte der Staat, sei sie nicht sicher. Faith träumt von einer Ausbildung als Friseurin.

Und Natascha? Sie versucht weiter, mich zu überzeugen. Schwärmt von Zyperns Sandstränden, der tropischen Sonne. „Es wird dir gefallen“, versichert sie lebhaft. Ich bitte um Bedenkzeit und verspreche zurückrufen. „Bis dann“, sagt Natascha zum Abschied. „Wir warten auf dich.“

Erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung